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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Zielgerichtetheit und Vernünftigkeit; Intentionalität (Beispiele: Bett, Nest); intentionale Basishandlung; ratio finis

Kurzinhalt: Intentionalität: Eine Beziehung zwischen einem "Tun" und einem "Wozu?" dieses Tuns, wobei das "Wozu?" gerade spezifiziert, was man eigentlich tut

Textausschnitt: c) Zielgerichtetheit und Vernünftigkeit

56b Der Zusammenhang zwischen Zielgerichtetheit des Handelns und Vernünftigkeit muss nun noch näher ausgeleuchtet werden. Stellen wir uns einen Menschen vor, der auf ein Bankkonto Geld einzahlt. Wir können ihn fragen, "was" er denn tue. Und die Antwort auf die Frage erhalten wir, wenn wir Aufschluss erhalten über das "Warum?" oder "Wozu?" dieses Tuns: "Ich lege mein Geld an", "ich spare", "ich bin dabei, unsauberes Geld zu waschen"; "ich bezahle eine Rechnung" usw. Hier gibt es Intentionalität: Eine Beziehung zwischen einem "Tun" und einem "Wozu?" dieses Tuns, wobei das "Wozu?" gerade spezifiziert, was man eigentlich tut. (Fs)

56c Dass hier das "Wozu man etwas tut" gerade das "Was man tut" ausmacht, vermag auch folgendes Beispiel zu erhellen: Wenn wir jemandem mitten am Tag auf seinem Bett liegen sehen und ihn fragen: "Was tust du?" und er uns antwortet: "Ich liege auf meinem Bett", so werden wir diese Rede eher als Verweigerung einer Antwort betrachten. Denn was wir meinten, als wir die Frage stellten, war: "Wozu liegst du auf deinem Bett?" Die Antwort müsste also beispielsweise lauten: "Ich ruhe mich gerade aus" oder "Ich betreibe Yoga". Damit ist gemeint: "Was ich tue ist folgendes: Ich liege auf meinem Bett, um mich auszuruhen" oder "um mich zu konzentrieren." Diese Antwort ist eine intentionale Erklärung, d.h. Ausdruck einer Intention. Und genau das ist es, was der Fragende mit seiner Frage erfahren wollte1. (Fs)

56d Es geht hier nicht um Intentionen im Sinne von Absichten wie "ein Auto stehlen um einen Verunfallten ins Spital zu bringen" oder "Geld anlegen (sparen), um seinen Kindern die Ausbildung zu finanzieren". Sondern vielmehr um jene Intention, die ein bestimmtes Tun überhaupt erst einmal in der fundamentalsten Weise als sinnvolle "menschliche Handlung" und damit auch als sittlich qualifizierbare Handlung konstituiert. Jene Intention also, die gleichsam die "unterste Schwelle" dafür bildet, damit wir überhaupt von einer menschlichen Handlung sprechen können. "Ein Auto stehlen" ist bereits eine solcherart definierbare Handlung. Nicht aber "mit einem Draht das Türschloss eines Autos öffnen". Was man hier tut, ist gar nicht klar (es könnte mein Auto sein, und ich habe versehentlich den Schlüssel stecken lassen; es könnte sich aber auch um einen Diebstahl handeln, wozu auch immer). Um was für eine Handlung es hier geht, das wird also erst klar durch Angabe eines "Wozu": "Er ist dabei, ein Auto zu stehlen". Diese Art von Intentionalität ist hier also gemeint. (Fs)

57a Wenn hier von einer "untersten Schwelle" die Rede war, so ist dies folgendermaßen zu verstehen: "Menschliche Handlungen" sind immer gewählte, gewollte Handlungen. Damit eine Handlung überhaupt gewählt, gewollt wird, bedarf sie einer primären oder fundamentalen intentionalen Strukturierung. "Auf dem Bett liegen" kann in dieser rudimentären (nicht-intentionalen) Form gar nicht "gewollt" und vollzogen werden. Wen jemand wählt, sich aufs Bett zu legen, so wählt er das "unter einer Beschreibung", die eben die Beschreibung einer Basis-Intention ist; z.B. "sich Ausruhen". Es geht hier also um "intentionale Basis-Handlungen", deren intentionaler Inhalt dasselbe ist, was man auch das "Objekt" einer Handlung nennt1. (Fs)

57b Intentionalität impliziert praktische Vernunft. Vögel beispielsweise haben keine Vernunft, und deshalb wissen sie nicht, was sie tun, wenn sie Zweiglein, Moos und dergleichen zusammentragen, d.h. dass sie ein Nest bauen. Intentionalität kennzeichnet jene Art von Streben, das eine doppelte Leistung der Vernunft einschließt: Erkenntnis eines Zieles; und Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen "dem, was man tut" (im rein physischen Sinne, z.B. "Aufbrechen eines Türschlosses", "Zweiglein zusammentragen") und diesem Ziel, dem "Wozu" ("Entwendung des Autos", "ein Nest bauen"). Erst beides zusammen bildet, was man eine "menschliche Handlung" nennt und gibt uns die Möglichkeit, ihren eigentlichen Inhalt, ihren Gegenstand (Objekt), also ihr praktisch relevantes "Was" zu identifizieren. Ein solches Handeln nennt man willentliches Handeln. Menschliches Handeln ist also von seinem Begriffe her (1) willentliches Handeln, (2) intentionales Handeln und (3) Handeln aufgrund von praktischer Vernunft. All dies fällt dem Umfange nach zusammen. (Fs) (notabene)

57c Aus der Perspektive des Beobachters besteht freilich zwischen dem Tun eines nestbauenden Vogels und einer intentionalen menschlichen Handlung kein angebbarer Unterschied. Man müsste hier "Handeln" einfach als kausale Verknüpfung von beobachtbaren Körperbewegungen (und anderen "Ereignissen") und dadurch hervorgerufenen Wirkungen beschreiben. Intentionalität ist nicht "beobachtbar", im Unterschied zur bloßen Zielgerichtetheit (Teleologie) eines Tuns. "Intentionalität" ist gleichsam die Innenperspektive von Teleologie: Nicht nur zielgerichtet etwas tun, sondern es in dieser Weise tun, weil das Ziel der Grund ist, um dessentwillen man es tut. Genau dies ist eine Intention. In diesem Zusammenhang steht der in der analytischen Philosophie ausgeprägte Gegensatz zwischen sogenannten "Intentionalisten" und "Kausalisten". Erstere verstehen Gründe (Intentionen) als Faktoren, die erklären, was man eigentlich tut und damit als Bestandteil der Handlung, nicht jedoch als (mentale) Ursachen einer Handlung. Letztere behaupten, "Gründe" seien mentale Ereignisse, die das Tun (= bestimmte Körperbewegungen) in einem strikt kausalen Sinn verursachen; damit wird nun Handlung auf "Körperbewegung" reduziert. Inwiefern diese Diskussion einem Scheinproblem und vor allem einem reduktionistischen Begriff von Kausalität entspringt, kann hier nicht ausführlich besprochen werden. Es scheint allerdings, dass analytische Philosophen keine Theorie der Willensakte besitzen, durch die entsprechende Dichotomien aufgelöst werden könnten. Dabei hat auch die Kritik von Gilbert Ryle1 am Dualismus Wille-Körperbewegung (Geist-Leib) entscheidend gewirkt. Im folgenden werde ich eine Position entwickeln, in der Intentionen sowohl als Bestandteile wie auch als Ursachen von Handlungen verstanden werden können.2

58a Deshalb erklärt Thomas von Aquin - im Anschluss an Aristoteles' Lehre über das hekousion - dass für die Willentlichkeit einer Handlung zweierlei notwendig ist: Erstens, dass die Handlung eigener Strebung, und nicht von außen kommender Gewalt entspringt (das trifft allerdings auch auf den nestbauenden Vogel zu). Zweitens, dass der Handelnde Kenntnis, Wissen bezüglich des Zieles besitzt1. (Fs)

58b Aber das genügt noch nicht, denn die Kenntnis des Zieles kann zweierlei Art sein: Auch Tiere brauchen Perzeptionen, sinnliche Erkenntnisse, um etwas zu tun. Der Instinktmechanismus wird perzeptiv ausgelöst, also durch eine Form von Wissen. Aber diese Form von Zielkenntnis ist unvollkommen, weil sie sich am Ziel nur die "Sachhaltigkeit" (res) erfasst, nicht aber, was Thomas die "ratio finis" nennt, d.h. gerade die "Zielhaftigkeit" dieser Sache. Nur wenn auch um diese letztere gewusst wird, gibt es eigentliche (vollkommene) Willentlichkeit; denn nur dann ist es möglich, auch die Beziehung mitzuerfassen, die zwischen dem Ziel und der Handlung besteht, die auf das Ziel gerichtet ist. Erst dann wird es möglich, das eigene Handeln intentional zu strukturieren, es gleichsam in eigener Regie zu vollziehen (bzw. auch nicht zu vollziehen), d.h. aufgrund von Zielen zu überlegen, was nun zu tun sei, und das zu Tuende im Hinblick auf das verfolgte Ziel zu wählen, bzw. das, was man immer schon tut, auf diesem Tun angemessene Ziele auszurichten2. Genau das ist die Leistung praktischer Vernunft. (Fs)

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