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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Zielgerichtetheit und Begriff der "menschlichen Handlung": actus humanus, actus hominis; Freiheit als Primärerfahrung (Vernunft, Wollen: reflexiv) - vs. sinnliches Streben; dominium (doppelte Wurzel)

Kurzinhalt: Vernunft wird durch kein partikulares Gut determiniert ... dominium (Freiheit) ...Diese Herrschaft ist einer bestimmten Art von Streben eigen: Jener, die auf Vernunft beruht; diese Art von Streben heißt Wollen

Textausschnitt: 53a Der intentionale Charakter des menschlichen Handelns, wie er bereits kurz skizziert wurde, meint, dass Handeln jeweils auf etwas "abzielt". Und für jenes, worauf wir jeweils abzielen, brauchen wir das Wort "gut"1. Das schließt bereits ein (und wurde ebenfalls bereits angedeutet), dass das "Gute", worauf wir im Handeln jeweils aus sind, jenes "Gut-scheinende" ist, wie es einem Urteil des Subjekts entspricht. Würden wir über "Gutes", bzw. "Ziele" nicht urteilen und nicht stets aufgrund solcher Urteile jeweils handeln oder vom Handeln ablassen (was auch eine Form von Handeln ist, nämlich willentliche Unterlassung), so würde uns ein entsprechendes Streben oder Tun nicht weiterhin interessieren. Es handelte sich dann ja einfach um ein irgendwie rein "spontanes" oder "naturgemäßes" Geschehen, dessen Analyse eher zur Naturwissenschaft (bzw. einer naturwissenschaftlichen Psychologie) gehören könnte, nicht aber zur Ethik. (Fs)

53b Es ist Bestandteil praktischer Erfahrung, dass unser Handeln frei ist, und das heißt: dass es sich aufgrund von vernünftigen Urteilen vollzieht und dass wir das Streben, das solchen Urteilen folgt, selbst immer in irgend einer Form in der Hand haben. Freiheit des Handelns muss nicht im Laufe der Ethik erst begründet werden. Sie ist Primärerfahrung, und ohne sie gäbe es so etwas wie Ethik oder praktische Philosophie gar nicht. Praktische Philosophie ist also immer auch Reflexion über die Erfahrung der Freiheit unseres Handelns. Wir brauchen diese Freiheit nicht zu postulieren. Sie ist nicht Postulat oder "Bedingung der Möglichkeit" von Praxis; sondern sie ist gerade Anlass und Gegenstand jener Reflexion, die wir praktische Philosophie nennen. Eine Ethik, die Freiheit postulieren muss oder ihre Existenz zu begründen sucht, hat in irgend einer Weise einen falschen Ausgangspunkt gewählt und damit ihren Gegenstand bereits verfehlt. (Fs) (notabene)

53c Jene Freiheit, die hier Primärerfahrung genannt wurde, nennt Thomas dominium, Herrschaft über das eigene Streben und Tun. Diese Herrschaft ist einer bestimmten Art von Streben eigen: Jener, die auf Vernunft beruht; diese Art von Streben heißt Wollen1. (Fs) (notabene)

53d Die Freiheit hat also gleichsam eine doppelte Wurzel: sie hat ihren Sitz im Willen: in jenem Streben, das aufgrund von Vernunfturteilen erfolgt. Der Wille ist Wurzel der Freiheit insofern er Subjekt (Träger, Sitz) der Freiheit ist. Die Vernunft selbst nennt Thomas Wurzel der Freiheit weil sie Ursache von Freiheit ist. "Denn deshalb vermag der Wille frei sich auf Verschiedenes auszurichten, weil die Vernunft darüber, was gut ist, verschiedene Auffassungen zu haben vermag"2. (Fs)

53e Das Streben des sinnlichen Begehrens beispielsweise beruht auf Perzeptionen der Sinnesorgane. Diese Perzeption hängt ab von organischen Bedingungen (Subjekt) und bestimmten Eigenschaften des erstrebten Gegenstandes. Die Relation zwischen perzipierendem Subjekt und erstrebtem Gegenstand ist hier naturhaft determiniert. Das entsprechende Streben folgt dieser perzeptiven Determiniertheit. Das Sinnesurteil verläuft eindimensional und naturhaft-spontan. Von Lebewesen, die nur aufgrund sinnlicher Strebung tätig sind, kann man nicht im eigentlichen Sinne sagen, dass sie "handeln", "non agunt, sed magis aguntur" ("sie handeln nicht, sondern werden angetrieben") sagt Thomas in einem unübersetzbaren Wortspiel1. (Fs)

54a Vernunft hingegen vermag das Gute, auch jenes der Sinnesstrebungen, unter verschiedensten Gesichtpunkten zu beurteilen, Aspekte, Für und Wider usw. abzuwägen. Vernunft wird durch kein partikulares Gut determiniert. Für die Sinnesstrebung ist das ihr gegenständliche Gute immer in jeder Hinsicht gut, und zwar gerade deshalb, weil Sinnesstreben überhaupt nur jeweils eine Hinsicht besitzt. Die Vernunft erfasst, dass das dem Sinnesbegehren "in jeder Hinsicht Gute" eben nicht in jeder Hinsicht gut ist, weil sie bezüglich einer Vielfalt von Hinsichten zu urteilen vermag. (Fs)

54b Der Mensch nun handelt erst aufgrund eines Strebens, das dem Urteil der Vernunft folgt. Auch das ist Primärerfahrung. Und dieses Streben nennen wir "Wollen". Es besitzt die Offenheit und Vielfalt der Vernunft. Und das heißt auch: Es vermag sich selbst zum Gegenstand zu machen. Urteile der Vernunft können, aufgrund anderer Gesichtspunkte, wiederum von derselben Vernunft beurteilt werden. Und was aufgrund eines Vernunfturteiles erstrebt (gewollt) wird, kann selbst wiederum Gegenstand eines Wollens zweiter Ordnung, von "second order desires" sein1. Vernunft und Wollen sind reflexiv. Das "Sehen" kann sich selbst nicht sehen, das "Hören" sich nicht hören, das "Tasten" sich nicht tasten: sinnliches Bewusstsein ist nie Selbstbewusstsein. Vernunft jedoch kann sich selbst wiederum vernünftig zu sich selbst verhalten bzw. sich beurteilen, und willentliches Streben kann selbst immer wieder gewollt oder nicht gewollt werden. (Fs) (notabene)


54c Aufgrund von Vernunft und Wille ist unser Handeln ein Tun, das wir in der Hand haben. Wollen-können heißt Herrschaft über eigenes Streben besitzen. Das heißt nicht, dass es in Vernunft und Wille nicht auch solches gibt, das wir nicht in der Hand haben: Es gibt Urteile der praktischen Vernunft, die wir naturhaft-spontan vollziehen. Etwa "Das Gute ist zu tun, das Üble zu meiden." Es gibt auch Strebungen des Willens, über die wir in gewisser Weise nicht Herr sind: Z.B. das Streben nach Selbsterhaltung und vor allem das Glücksverlangen. Doch davon später (Kapitel V). (Fs)

54d Eine Handlung, über die wir Herrschaft besitzen und die wir aufgrund solcher Herrschaft vollziehen, nannten die Philosophen und Theologen der Scholastik eine menschliche Handlung ("actus humanus"). Solche Handlungen sind zu unterscheiden von Tätigkeiten menschlicher Subjekte, die nicht Vernunft und Willen entspringen und deshalb zwar "Handlungen" oder besser: Akte des Menschen sind ("actus hominis"), nicht aber menschliche Handlungen, also Handlungen, die der spezifischen Eigenart menschlichen Tuns entspringen. Denn sie besitzen zwar das äußere Gewand von menschlichen Handlungen, nicht aber deren "Seele". Anders gesagt: sie entspringen nicht dem freien Willen, - wobei "freier Wille" nichts anderes meint als "Streben aufgrund von Urteilen der Vernunft". "Freier Wille" ist nicht ein undeterminierter oder nicht-determinierbarer Wille, sondern ein solcher, der durch nichts anderes determiniert zu werden vermag, als durch Vernunft-Urteile über das Gute. (Fs)

55a Analytische Philosophen unterscheiden in der Regel nicht zwischen actus humanus und actus hominis, da diese Unterscheidung natürlich bereits einen "starken", die Willentlichkeit einschließenden Begriff von Handlung voraussetzt. Diese Nichtunterscheidung führt dann oft zu unnötig erscheinenden Komplikationen und Unklarheiten und resultiert schließlich - wie etwas bei Donald Davidson -in der Reduzierung von Handlungen auf Körperbewegungen. Handlungen werden als auf bestimmte Weise verursachte Ereignisse interpretiert: "Wir tun nie mehr, als unseren Körper zu bewegen; der Rest ist der Natur anheimgestellt"1. Charakteristisch ist dann z.B. folgendes von Davidson angeführtes Beispiel: "Über einen Teppich zu stolpern, ist normalerweise keine Handlung, doch wenn man es absichtlich tut, ist es eine"2 Auf Grund der Unterscheidung von actus hominis ("Akt des Menschen") und actus humanus ("menschliche Handlung") wird sogleich deutlich, dass "stolpern" keine "menschliche Handlung" ist, obwohl es natürlich etwas ist, was man irgendwie "tut". Falls man es hingegen absichtlich tut, so ist das allerdings nun kein "absichtliches Stolpern" (das widerspricht dem Begriff des "Stolperns"), sondern ein bloßes "so tun als ob man stolperte", also ein (nun natürlich absichtliches) Vortäuschen einer unabsichtlichen Körperbewegung bzw. eines Geschehens oder Ereignisses (eben des Stolperns). (Fs)

55b Im Schlaf vollzogene Handlungen sind keine "menschlichen Handlungen". Ebenfalls nicht gewisse Spontan- oder Reflexhandlungen. Kleinkinder, die noch nicht Vernunftgebrauch besitzen, vollziehen keine "menschlichen Handlungen". Ebenfalls nicht geistig Behinderte (insofern solche Handlungen eben eine pathologische Ursache haben). Wenn jemand, aufgrund eines plötzlichen Schreckens, reflexartig jemand anderen zu Boden stößt, so war dies keine "menschliche Handlung". In all diesen Fällen können wir zwar von "Handlungen eines Menschen" sprechen, denn sowohl Schlafende, wie auch Kleinkinder, geistig Behinderte oder Subjekte, die Reflexhandlungen vollziehen sind ja Menschen. Aber die entsprechenden Handlungen werden nicht vollzogen aufgrund von Eigenschaften, die diesen Subjekten als Menschen spezifisch eigentümlich sind. Als menschlich zeichnet sich unser Handeln aus, weil es willentlich ist, das heißt vernunftgeleitetem Streben entspringt und wir darüber entsprechend Herrschaft besitzen: Wir wissen, was wir tun, welches die Folgen unseres Tuns auch für andere sind und aufgrund der Wahrnehmung von Verantwortlichkeit für diese Folgen können wir das eine tun und das andere lassen3. Handlungen von Kleinkindern, geistig Behinderten usw. sind eigentlich gar keine Handlungsvollzüge; sie gleichen eher "Naturereignissen". In einer bestimmten Hinsicht haben sie mit einem Erdbeben mehr gemeinsam, als mit einer menschlichen Handlung. So wie wir einem Erdbeben höchstens im metaphorischen Sinne "Verantwortung" oder "Schuld" für die Hervorbringung von Übeln zusprechen, so fallen auch die genannten "Geschehnisse" nicht unter die Kategorien von "Verantwortung", "Schuld und Verdienst", "Lob oder Tadel". Dies ist ein Zeichen dafür, dass sie Handlungen sind, die für die Ethik belanglos bleiben. Und damit haben wir auch bereits gesagt: "Menschliche Handlungen" sind extensional (umfangmäßig) identisch mit "sittlichen Handlungen". "Sittlich" hier nicht im Gegensatz zu "unsittlich", sondern im Gegensatz zu "sittlich nicht bewertbar" oder "sittich belanglos". Denn eine sittliche Handlung ist eine Handlung, die man loben oder tadeln kann4. (Fs)

56a Die Ethik beschäftigt sich also mit der menschlichen Handlung. Oder anders gesagt: Sittliches Handeln ist der Bereich jenes Tuns menschlicher Subjekte, das vernunftgeleitetem Streben entspringt (= "menschliche Handlung"). Deshalb beschäftigt sich Ethik mit jenem Tun des Menschen, das wir frei nennen, oder auch "willentlich", "verantwortlich", und wo wir loben und tadeln können. Der Bereich des Moralischen deckt sich mit jenem, wo auch Lob und Tadel ihren Ort haben. (Fs)


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