Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Sexualiät und Verantwortung Titel: Sexualität und Verantwortung Stichwort: Empfängnisverhütung, Naturgesetz: formell, materiell; Kurzinhalt: Weshalb und in welchem Sinn genau kann man Empfängnisverhütung eine Verletzung des Naturgesetzes nennen? Textausschnitt: Fußnote 105:
105 Wir können somit "Naturgesetz" entweder formell oder materiell betrachten. Formell betrachtet ist das Naturgesetz die ordinatio rationis, der (universale) gebietende Akt der natürlichen Vernunft, durch den die Ordnung der Vernunft in den menschlichen Neigungen und den ihnen folgenden Handlungen erstellt wird. Materiell betrachtet ist das Naturgesetz das Ensemble der natürlichen Neigungen, insofern diese in die Ordnung der Vernunft integriert und deshalb durch Vernunft geregelt sind. Beide Betrachtungsweisen beziehen sich auf dieselbe Wirklichkeit; die erstere jedoch weist auf das eigentliche Wesen des Naturgesetzes (die aktive Vernunftregelung menschlicher Neigungen); die zweite unterstreicht eher den materiaien Gehalt der einzelnen Vernunftgebote des Naturgesetzes. Wie ich in meinen Arbeiten zum Thema gezeigt zu haben glaube, ist das Naturgesetz wesentlich ein Werk der praktischen Vernunft des Menschen. Thomas von Aquin nennt es, wie das "Gesetz" generell, ein "opus rationis" (I-II, q.94, a.l) und "aliquid a ratione constitutum" (ebd.). Wenn man über das Naturgesetz spricht, so meint hier "Vernunft" die natürliche Vernunft ("ratio naturalis").
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126a Die hier vorgelegte Argumentation will, wie gesagt, auch eine Antwort auf die letzte Frage liefern, die zu beantworten ich mir vorgenommen habe: "Weshalb und in welchem Sinn genau kann man Empfängnisverhütung eine Verletzung des Naturgesetzes nennen?" Die Beantwortung dieser Frage ist freilich bereits geleistet. Wir haben nämlich, da wir von Tugenden sprachen, bis dahin über gar nichts anderes als das "Naturgesetz" gesprochen. Weshalb dies so ist, ist nun noch kurz aufzuzeigen. (Fs)
126b Was ist das "Naturgesetz"? Wie ich es - in Anschluß an Thomas von Aquin - verstehe, ist mit diesem Ausdruck die Ordnung gemeint, welche durch die menschliche Vernunft in den natürlichen Neigungen des Menschen erstellt wird1. Diese Neigungen sind naturgegeben, so z.B. die natürliche Neigung zur Verbindung zwischen Mann und Frau. Aber obwohl diese Neigung natürlich genannt werden muß und sie, als eine geschaffene Wirklichkeit, auf ihre Weise ein Ausfluß des ewigen Gesetzes des Schöpfers ist, kann sie als natürliche Neigung trotzdem noch nicht natürliches Gesetz genannt werden. Denn ein "Gesetz" ist eine der Vernunft entspringende, verpflichtende Regel oder Maßstab für den Vollzug von Handlungen. Das "Naturgesetz" ist demnach die in den natürlichen Neigungen erstellte Ordnung der praktischen Vernunft bzw. die Anordnung (ordinatio) der praktischen Vernunft, durch die diese Ordnung menschlicher Handlungen auf das für den Menschen Gute hin erstellt wird. Die in diese Ordnung der Vernunft integrierte natürliche Neigung setzt also bereits voraus, daß diese Neigung durch die Vernunft als innerhalb der Ordnung der Vernunft zu verfolgendes menschliches Gut erfaßt wurde2. Das "Naturgesetz" ist also nichts anderes als die dem Menschen "natürliche" Weise, seine Neigungen und entsprechende Handlungen auf das für ihn Gute hinzuordnen, d.h.: nicht aufgrund instinktiver Triebsteuerung, sondern aufgrund vernünftiger, den freien Willen leitender Einsicht in das für den Menschen Gute zu handeln und entsprechende menschliche Übel zu meiden. (Fs)
127a Es sei vermerkt: Der Terminus "Naturgesetz" ist mißverständlich und verfänglich, denn er meint nicht ein "Gesetz der Natur" (etwa analog zu physischen "Naturgesetzen"), sondern ein "natürliches Gesetz" der Vernunft. Jedes Gesetz ist ja seinem Wesen gemäß eine Anordnung der Vernunft (ordinatio rationis). Eine solche besteht, gemäß klassischer Lehre, im göttlichen Geist, der alle Geschöpfe auf ihr Ziel hinordnet oder auch in menschlich-positiven Gesetzen, die der ordnenden Vernunft des menschlichen Gesetzgebers entspringen. "Gesetze" können auch von Gott offenbart werden (z.B. der Dekalog, überhaupt das mosaische Gesetz, das "neue Gesetz" des Evangeliums). Mit dem Terminus "Naturgesetz" ist nun nicht gemeint, daß auch die "Natur" - im Gegensatz zur Vernunft - ein ihr eigenes Gesetz formuliere, sondern daß es im Menschen ein Gesetz, eine "Anordnung der Vernunft", gibt, das ganz unabhängig von menschlicher und göttlicher positiver Satzung - d.h. eben "natürlicherweise" - eine Ordnung auf das für den Menschen Gute hin erstellt. Da der Mensch von Natur aus nun eben ein vernünftiges Wesen ist, so existiert tatsächlich ein solches Gesetz: Es sind die gebietenden Akte seiner praktischen Vernunft, in denen der Mensch das Gute vom Üblen scheidet und entsprechend, aufgrund der vernünftigen Einsicht in das für den Menschen Gute, sich verpflichtet weiß, es zu tun. Diese Funktion der dem Menschen natürlichen praktischen Vernunft konstituiert deshalb ein "natürliches Gesetz", - "natürlich", um es zu wiederholen, nicht weil es einfach "Natur" ist, sondern weil es nicht im göttlichen Geist, sondern in der "menschlichen Natur" (die Vernunft einschließt) vorhanden ist und weil es nicht durch positive Satzung bekannt wird, sondern allein durch die praktische Vernunft, die eben Teil der Natur des Menschen ist. (Fs)
128a In unserem Zusammenhang ist diese "Ordnung der Vernunft" die Vernunftordnung der sexuellen Neigung, d.h. die Ordnung der liebenden, gegenseitigen Selbsthingabe und der darin eingebundenen prokreativen Verantwortung, zwei Aspekte, die untrennbar miteinander verknüpft sind; sie ist eine Ordnung der Vernunft, die im Sexualtrieb und den ihm entspringenden Akten und Verhaltensweisen erstellt wird. Eheleute, die ihr Sexualverhalten entsprechend den Erfordernissen prokreativer Verantwortung modifizieren, handeln deshalb in Übereinstimmung mit dem Naturgesetz; sie leben die Tugend ehelicher Keuschheit; denn das Naturgesetz gebietet nichts anderes, als die Tugenden zu leben. (Fs) ____________________________
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