Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Sexualiät und Verantwortung Titel: Sexualität und Verantwortung Stichwort: Kontrazeptives Verhlaten -> desintegrierte Sexualität; Ausdruckshandlung; Heteronomie der Sinnlichkeit Kurzinhalt: Gemäß heutigen anthropologischen Erkenntnissen wissen wir, daß der Sexualtrieb allein noch keine Paarbindung herstellt. Die ihm naturhaft eigene Dynamik ist nun einmal jene der Selbst-Befriedigung Textausschnitt: 103a Es ist zu betonen: Die Folgen können sehr verschieden sein; was hier konkret eintritt und in welchem Grad es geschieht, das hängt sehr stark von weiteren, kontingenten Faktoren (Charakter, Lebens-umstände, Triebkonstitution usw.) ab, die der Kontrazeption als solche äußerlich sind. Jedenfalls hat sich durch die Anwendung der Empfängnisverhütung etwas objektiv Entscheidendes ereignet: Die Aktivierung eines Prinzips der Desintegrierung der Sexualität aus dem Kontext ehelicher Liebe und damit eine Gefährdung dieser Liebe selbst. Dieses Desintegrierungsprinzip beruht auf der Eigenart des sinnlichen Begehrens, das aufgrund der ihm eigenen Natur - d.h. als sinnlicher Trieb - ausschließlich auf aktuelle Erfüllung und Selbst-Befriedigung zu tendieren vermag. Im Falle der Tiere wird diese naturale Selbstbezogenheit des Sexualtriebes ja durch eine perfekte Triebsteuerung aufgrund von Instinkten kompensiert, so daß die jeweils zweckmässige Paarbindung und ausreichende Nachkommenschaft gesichert sind. Gemäß heutigen anthropologischen Erkenntnissen wissen wir, daß der Sexualtrieb allein noch keine Paarbindung herstellt. Die ihm naturhaft eigene Dynamik ist nun einmal jene der Selbst-Befriedigung. (Fs)
104a Auch wenn wir vom Sexualakt als einem Akt sprechen, der personale Liebe zum Ausdruck bringen und diese vertiefen und nähren kann und soll, so dürfen wir doch nie vergessen, daß er in seiner naturalen Struktur die mit intensivster Lust verbundene Befriedigung eines Triebes ist. Der Beischlaf ist nicht einfach eine Geste der Zärtlichkeit wie z.B. das Küssen. Ein Kuß entspringt als solcher keinem Trieb und er hat keine naturgegebene "Funktion" (auch wenn man ihn, in bestimmten Zusammenhängen, als sublimierten Trieb bzw. als sexuell bedeutsamen Akt verstehen kann und er entsprechend eine spontane Handlung ist; aber die Sublimierung selbst entspringt eben gerade nicht einem Trieb). "Küssen" ist ganz einfach eine Ausdruckshandlung. Dieser und ähnliche Erweise von Zärtlichkeit und Zuneigung sind jeweils genau das und nur das, was sie ausdrücken. Der verräterische Judaskuß war nun einmal etwas gänzlich anderes als die Küsse, mit denen die Sünderin die Füße Jesu bedeckte. Und Küsse unter Verliebten oder Eheleuten sind wiederum Ausdruck spezifisch anderer Intentionen vmd Affekte. Der Sexualakt jedoch ist nicht einfach, was er aufgrund des menschlichen Willens auszudrücken intendiert. Er ist Erfüllung, Zu-Ende-kommen eines Triebes, der in sich bereits, ganz unabhängig von anderen Ausdrucksgehalten und vom menschlichen Willen, eine eigene, naturgegebene Dynamik und Funktion besitzt. Das Triebgeschehen besitzt seine Eigendynamik ganz unabhängig davon, was man nun weiterhin mit ihm ausdrücken will. Und diese Dynamik ist eine durch und durch sinnliche Dynamik, die in sich und an sich nichts mit personaler Liebe zu tun hat, obwohl sie als in den Kontext der leib-geistig konstituierten Person integrierte Dynamik auf die Erwirkung eines menschlichen Gutes zielt: Die Entstehung neuen menschlichen Lebens1. (Fs)
105a Menschliche Sexualität ist nun aber nicht instinktgesteuert. Der Mensch ist, im Gegensatz zum Tier, ausgesprochen instinktarm. Dafür allerdings besitzt er Vernunft und freien Willen. Dieser personalen Ebene entspringt ja, was wir "geistige Liebe" zwischen Personen nannten. Nun sind aber die Logik der geistigen Liebe und die Logik des sinnlichen Strebens völlig verschieden. Sexualität bedarf der operativen Integration in die "Logik des Geistes". Erst so vermag sie, unbeschadet ihres Triebcharakters, ein spezifisch menschlicher und als solcher auch leiblicher Ausdruck geistiger Liebe zu werden, und nur dann auch wird sie - einschließlich die Lustkomponente - ihren Beitrag zur Förderung einer Gemeinschaft von Personen leisten können. (Fs)
106a Es wurde gezeigt, daß kontrazeptive Sexualität eine Form von Sexualität ist, in der das Triebgeschehen gleichsam entfunktionalisiert wird. Der Sinngehalt "Hinordnung auf Erzeugung menschliches Leben" findet sich in ihr nicht mehr. Das verändert jedoch den Trieb als solchen in keiner Weise. Die Triebdynamik und ihre Lustfunktion bleiben unangetastet. Entscheidend ist hier folgende Feststellung: Der Trieb bleibt naturale Gegebenheit, er besitzt aber infolge Kontrazeption keine ebenso durch Natur, unabhängig vom Willen des Menschen gegebene Funktion und deshalb auch keinerlei vorgegebenen Sinngehalt mehr. Der Trieb, der Bestandteil personaler Subjektivität, des "Ich" der Person ist, wird zum reinen naturalen Geschehen, dessen einziger fortan als positiv erlebbarer Gehalt die Lustkomponente ist. Wir können dies "desintegrierte Sexualität" nennen1. Der Sexualakt muß nun - will man nicht Lustgewinn allein als sinnvolles Handlungsziel behaupten - als reine "Ausdruckshandlung" wie das Küssen verstanden werden, als eine Liebesgeste, die allein das zu sein beansprucht, was sie auszudrücken intendiert. Sie bleibt jedoch notwendigerweise eine inadäquate Ausdruckshandlung, ganz einfach weil sie triebgebunden ist. Sie ist als reine Ausdruckshandlung verstanden eine Selbsttäuschung, denn Ausdruckshandlungen besitzen die Eigenschaft, daß sie funktionale Äquivalente besitzen; die in ihnen enthaltenen Ausdrucksqualitäten können prinzipiell auch durch andere Ausdrucksmedien - vornehmlich durch sprachliche Zeichen - mitgeteilt werden2. Die Triebgebundenheit von Sexualakten läßt dies jedoch nicht zu, denn dem Trieb geht es immer um die Befriedigung des Triebes; er läßt sich nicht durch anderes "ersetzen". Und ein Sexualakt ist von Natur aus und an seiner Basis immer schon mehr als Ausdruckshandlung, nämlich Triebgeschehen und reine Sinnlichkeit. Aus ihrer naturalen Funktionalität und entsprechender Sinnhaftigkeit desintegrierte Sexualität läßt sich nicht durch den bloßen Willen des Menschen für Ausdruckshandlungen funktionalisieren. Sie muß mit solchen Ausdrucksintentionen notwendigerweise in Konkurrenz treten, weil sie vor aller solchen Intention und unabhängig von ihr als Trieb ihre eigene Dynamik besitzt und beibehält. (Fs)
108a Ich bin mir freilich bewußt, daß eine solche Charakterisierung kontrazeptiven Sexualverkehrs bedeutet, ein Risiko einzugehen; es ist das gewöhnliche Risiko, mißverstanden zu werden. Gemeint ist ja nicht, daß die Absicht, mit der empfängnisverhütende Maßnahmen treffende Eheleute Sexualverkehr vollziehen, auf reine Triebbefriedigung gerichtet ist; ich unterstelle das Gegenteil. Die kontrazeptivem Sexualverkehr zugrundeliegende Desintegrierung der Sexualität bezieht sich nicht auf solche Absichten. Es ist unterstellt, daß diese Eheleute sich wirklich lieben und durchaus einen Akt vollziehen wollen, um sich diese gegenseitige Liebe auszudrücken. Und daß sie, zweitens, diesen Akt auch nur deshalb vollziehen, weil sie sich tatsächlich lieben. Die Tatsache des kontrazeptiven Eingriffs allein ändert ja noch nichts daran, daß die zwischen beiden Ehepartnern bestehende personale Liebe auf leibliche Vereinigung drängt und darin ihre Erfüllung findet. Das obige Urteil bezieht sich, wie immer, auf die innere Struktur der Handlungsweise selbst. Und die These ist: Trotz aller guten Absichten können solche Eheleute nicht jene eheliche Liebe ausdrücken, die sie eigentlich ausdrücken wollen, ganz einfach deshalb, weil es unmöglich ist, personale Liebe in Akten des Sexualtriebes als solchem zum Ausdruck zu bringen. Zwischen beiden, der Ebene personaler Liebe und derjenigen des leiblichen Tuns im Sexualakt, besteht hier eine Kluft. Und deshalb tendiert hier Sexualität als desintegrierter Trieb darauf, die dem sinnlichen Begehren eigene Dynamik zu entwickeln, die derjenigen personaler Liebe als Selbsthingabe an den anderen entgegenläuft93. (Fs)
Fußnote 93:
93 Man könnte an dieser Stelle einwenden, hier werde dem Dualismus nun durch die Hintertür wieder Einlaß gegeben, es werde ein dualistischer Widerstreit zwischen "Trieb" und "Geist" (als Sitz personaler Liebe) oder ein Dualismus von "egoistischem" Leib und "altruistischem" Geist angenommen. Doch handelt es sich nicht um eine dualistische Betrachtungsweise, weil hier von "Trieb" ja nur in abstrakter Weise gesprochen wird. Die These ist gerade: Der Trieb als solcher ist zwar selbstbezogen; es "gibt" ihn aber als solchen gar nicht. Denn in Wirklichkeit ist der menschliche Sexualtrieb integraler Bestandteil leib-geistiger Einheit. Der Trieb manifestiert seine spezifisch humane Dimension gerade innerhalb dieser Einheit, die allerdings durch Handeln zerstört - desintegriert - werden kann. In dieser operativ verursachten Desintegration erst ist der Trieb "selbstbezogen", -und gerade deshalb auch nicht mehr "menschlich". Dies setzt eben gerade eine nicht-dualistische Sicht des Verhältnisses Leib-Geist voraus, d.h. die Ansicht: Der Geist "drückt" sich nicht einfach im Leib oder durch die Materie "aus", sondern er wird überhaupt erst durch ihn und in Verbindung mit ihm zu einem menschlichen Handlungssubjekt; ohne Sexualtrieb gäbe es gar keine - auch keine geistige - Liebe zwischen Mann und Frau, die sich spezifisch von anderen Formen zwischenmenschlicher Liebe unterschiede. ____________________________
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