Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Die Perspektive der Moral Titel: Die Perspektive der Moral Stichwort: Julia Annas, Unterschied: klassische Tugendethik - moderne Moralphilosophie (Konsequentialismus); hierarchische Strukturierung, Vollständigkeit; basic notions - primary notions Kurzinhalt: Zweck der Tugend ist nicht, ein tugendhaftes Subjekt mit guten Motivationen zu sein, sondern ein solches, das richtig handelt Textausschnitt: 35d Wie Julia Annas verdienstlicherweise herausgearbeitet hat1, unterscheidet sich klassische Tugendethik methodologisch in mehrfacher Hinsicht von moderner Moralphilosophie. Gemäß weit verbreiteter heutiger Meinung, so Annas, muss eine ethische Theorie sich durch zwei Eigenschaften auszeichnen: hierarchische Strukturierung und Vollständigkeit. Mit "hierarchisch" ist gemeint, dass in einer ethischen Theorie einige Begriffe als grundlegend und alle anderen als von diesen abgleitet bzw. auf sie zurückführbar betrachtet werden. So ist die für den Konsequentialismus grundlegende Größe jene der als voraussichtliche Folge des Handeln bewirkten Zustände und Sachverhalte, aus der dann wiederum abgeleitet wird, wozu wir im Handeln verpflichtet sind: eben die Herstellung möglichst optimaler Zustände und Sachverhalte. Wer ein guter, gerechter usw. Mensch ist oder was eine "Tugend" genannt werden kann, ist ebenfalls darauf zurückzuführen, in welchem Maße diese "Tugend" geeignet ist, optimale Zustände und Sachverhalte herbeizuführen. "Tugend", "Gerechtigkeit" usw. wird also auf den Begriff der Disposition zum richtigen d. h. folgenoptimalen Handeln reduziert. Dass eine ethische Theorie "vollständig" sein solle meint hingegen, dass ihre Grundbegriffe und alle von diesen abgeleiteten Begriffe imstande sind, sämtliche moralischen Phänomene zu erklären. So wird ein Konsequentialist keine moralischen Urteile zulassen, die nicht darauf beruhen, eine Handlung oder Disposition auf Grund der dadurch bewirkten Folgen zu beurteilen. Er wird deshalb behaupten, Feigheit sei deshalb zu verurteilen, weil sich daraus schlechte Folgen ergeben, was natürlich dazu führt, dass es aufs Gleiche herauskommt zu sagen, jemand habe eine Untat aus Feigheit oder aus Ungerechtigkeit vollbracht; beides ist ja dasselbe, da seine moralische Bewertung auf Grund der dadurch bewirkten Folgen vorgenommen wird. Tapferkeit ist dann die Disposition, immer das Richtige zu tun (d. h. das, was die besten Folgen bewirkt), genau wie dies auch Gerechtigkeit oder Mäßigkeit ist. Letztlich werden alle moralischen Größen, insbesondere Tugendbegriffe, zu bloßen Namen um immer wieder dasselbe zu bezeichnen: die konsequentialistische Rationalität der Folgenoptimierung. Solche ethischen Theorien sind reduktionistisch, weil sie alles auf ein einziges Moralprinzip zurückführen. (Fs) (notabene)
36a Klassische Tugendethik ist weder auf hierarchische Strukturierung noch auf Vollständigkeit im genannten Sinn bedacht. Dasselbe läßt sich mit einer noch zu erörternden Einschränkung auch von einer in ihrer Tradition stehenden, an Thomas von Aquin orientierten rationalen Tugendethik sagen. Klassische Tugendethik beginnt nicht mit Grundbegriffen ("basic notions"), aus denen alles Nachfolgende abzuleiten bzw. auf die alles zurückzuführen ist, sondern mit ersten Begriffen ("primary notions") wie dem letzen Ziel des Handelnden, dem Streben nach Glück (als des um seiner selbst willen erstrebten Letzten) und dem Begriff der Tugend selbst (als Vorzüglichkeit dessen, der in all seinem Wählen und Tun das in Wahrheit Gute trifft). Der Begriff der "richtigen" oder "guten" Handlung ist aber von diesen ersten Begriffen nicht abgeleitet und nicht darauf zurückführbar. So verstehen z. B. alle klassischen Tugendethiken der Antike Tugend als eine Disposition, das sittlich Richtige zu tun; dennoch wird nun der Begriff des "sittlich Richtigen" nicht als das definiert, was dazu geeignet ist, eine tugendhafte Disposition oder Verfasstheit des Subjekts hervorzubringen oder zu fördern. Tugendgemäße Handlungen beziehen ihren moralischen Wert nicht daraus, dass sie dazu dienen, die Tugenden zu erwerben, sondern weil sie ermöglichen, das jeweils sittlich Richtige zu wählen; die Tugenden sind davon die habituelle Disposition. Zweck der Tugend ist nicht, ein tugendhaftes Subjekt mit guten Motivationen zu sein, sondern ein solches, das richtig handelt. Die Pointe davon, ein guter, gerechter, tapferer, maßvoller Mensch zu sein besteht darin, ein solcher zu sein, der das Gerechte, Tapfere und dem rechten Maß entsprechende liebt und es auch tut. Gerade deshalb ist die Frage so wichtig, zu was für einem Menschen wir uns machen, wenn wir dieses oder jenes wählen und tun. Eine "gerechte Handlung" wird deshalb nicht definiert als eine Handlung, durch die man ein gerechter Mensch wird (obwohl natürlich gerade jede Tugendethik dafür hält, dass wir durch gerechte Handlungen gerechte Menschen werden). Was sittlich richtig ist, muss jedoch unabhängig davon verstanden werden, denn gerechte Menschen werden wir durch das Wählen und Tun gerechter Handlungen d. h. des gemäß den Erfordernissen der Gerechtigkeit Richtigen. Erst so erkennen wir, was eine Handlungsdisposition oder affektive Verfassung des Subjekts überhaupt zu einer Tugend macht d. h. zu einer moralischen Disposition, einer Disposition zum sittlich Richtigen, und nicht nur zu irgend einer Disposition, die man zwar bewundernswert oder vorzüglich nennen könnte, die aber gar nicht unbedingt etwas mit Moralität zu tun haben muss1. (Fs)
37a Klassische Tugendethik kennt also durchaus Primärbegriffe wie Glück oder Tugend, da es ja auch in unserer sittlichen Erfahrung Primäres und Sekundäres gibt, aber es fehlt eine hierarchische Ableitungsbeziehung zwischen ihnen. Weder "Glück" noch "Tugend" sind Moralprinzipien. Deutlich wird dies gerade beim Verhältnis zwischen den Begriffen "Glück" und "richtige" bzw. "gute Handlung". Obwohl der Begriff des Glücks der Begriff des höchsten Gutes ist, kann das Richtige und Gute, durch das wir das Glück erreichen können, daraus nicht "abgeleitet" werden. Der Begriff des höchsten Gutes oder des Glücks ist auch kein Standard, auf Grund dessen Handlungen bezüglich ihres Gutseins evaluiert werden könnten (vgl. dazu unten III, 1). Damit ist eine "hierarchische" Strukturierung der Ethik (im Sinne Annas') unmöglich. Mangel an hierarchischer Strukturierung führt aber zum Mangel an entsprechender Vollständigkeit. Tugendethik kann nicht alles in Tugendbegriffen erklären. So bedarf eine Tugendethik z.B. der Ergänzung durch eine Institutionenethik, die nicht auf tugendethische Begriffe zurückführbar ist (Konsequentialisten begründen institutionenethische Aussagen hingegen zwangsläufig konsequentialistisch). Eine Tugendethik kennt durchaus auch folgenorientierte Argumente und sie wird auch für das diskursethische Konsensprinzip limitierte Anwendungen finden, dies vor allem, wenn sie sich zur politischen Ethik ausweitet. Überhaupt öffnet sich Tugendethik in pluralistischer Manier einer Vielzahl rationaler Argumentationsweisen. Auch dies ist ein durchaus aristotelisches und natürlich völlig unkartesianisches Prinzip: Die Methode hat sich nach dem Gegenstand und nicht der Gegenstand nach der Methode zu richten. Eine Tugendethik behauptet auch nicht, für alle Fälle eine Lösung bieten zu können. Grenzfälle, "boderline cases", knifflige "moralische Probleme", "quandaries" und "Dilemmata" finden aus tugendethischer Sicht nicht unbedingt eine klare "Lösung" (während es für einen Konsequentialisten immer eine präzise Lösung gibt, nämlich jene, welche voraussichtlich die besten Folgen bewirkt). Allerdings ist aus tugendethischer Sicht dennoch begründbar, warum solche moralischen Probleme aus theoretischer Sicht nicht unbedingt abschließend beurteilt zu werden vermögen. (Fs) ____________________________
|