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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Glaube - Philosophie; ancilla theologiae

Kurzinhalt:

Textausschnitt: 32b Aber, so ließe sich erneut fragen: Braucht der Glaubende überhaupt "Philosophie"? Diese Frage ist entschieden zu bejahen. Zunächst weil der Glaube nicht an die Stelle natürlicher Erkenntnisfähigkeit tritt, sondern diese eher ergänzt, sie auf ein höheres Niveau erhebt. "Ergänzung" und "Erhebung" sind nun aber nicht möglich, wenn da nicht etwas ist, was "ergänzt" und "erhoben" werden kann. Und daraus ergibt sich sogleich das Zweite: der Glaube sagt uns nicht alles. Er ist Licht im menschlichen Intellekt und Wirkkraft im menschlichen Willen. Und deshalb kann er menschliche, natürlich-vernünftige Einsicht nie ersetzen, ja er setzt sie in mancher Hinsicht sogar voraus. (Fs)

32c Es könnte nun der Verdacht aufkommen, dass hier für Philosophie als ancilla theologiae, als "Magd der Theologie" plädiert wird. Darunter kann man freilich vielerlei verstehen. Man könnte darunter etwa sinnvollerweise verstehen, dass Theologie auf Philosophie angewiesen ist und letztere deshalb der ersteren nicht dienstbar, sondern dienlich ist, auch wenn das nicht der historisch ursprüngliche Sinn dieser recht zweifelhaften Metapher ist1. Jedenfalls wäre dies keine Herabwürdigung der Philosophie. Denn auch die Mathematik "dient" ja der naturwissenschaftlichen Erkenntnis; und dadurch wird Mathematik nicht in ihrer Würde oder Selbständigkeit geschmälert. Im Gegenteil, wäre solcher Nutzen nicht vorhanden, so führte wohl die Mathematik heute eine ebensolche akademische und gesellschaftliche Randexistenz wie gegenwärtig die Philosophie. Diese besitzt ja nachweislich nicht nur akademisch, sondern auch sozial gerade dort höchste Wertschätzung, wo der Glaube blüht und Theologie bedeutsam ist. Das bezeugt nicht nur das christliche Mittelalter, sondern auch das gewissermaßen theologischste aller Zeitalter, das 17. Jahrhundert. (Fs)

32d Mag denn also Philosophie ruhig ancilla sein. Als brauchbare Dienerin wird sie sich jedoch nur erweisen können, wenn sie wirklich Philosophie ist, - und in diesem Sinne ist sie gerade wesentlich nicht ancilla, sondern jene dem Menschen eigene Öffnung auf die Wirklichkeit als ganze hin, die, um das Wort Kants zu gebrauchen, einer "Naturanlage" des Menschen entspringt. Sie ist Suche nach Erkenntnis des Ganzen als Ganzes, d. h. Suche nach Erfassung der Wirklichkeit aufgrund deren letzter und tiefstliegender Gründe und Ursachen. Als menschliches Unternehmen ist ihr das Suchen wesentlich. Mehr als Besitz von Wahrheit ist sie Liebe zur Wahrheit, weil ihr Wissen als menschliches immer bruchstückhaft bleiben muss. Zudem ist dies Wissen immer auch an die Art der eigenen Lebensführung gebunden. Erkenntnis und Interesse sind hier nicht zu trennen. Philosophie wird gerade deshalb immer auch in sich kontrovers bleiben. Das ist kein Argument gegen sie, sondern nur ein Zeichen dafür, dass sie sich wirklich mit dem Ganzen beschäftigt. Damit wird sie aber auch als akademische Disziplin zur "institutionalisierten Grundlagenkrise"2. Die Krise betrifft nicht nur "Sachfragen", sondern unmittelbar den jeweils philosophierenden Menschen in seinem existentiellen Selbstverständnis. Man denke an das Wort, das Nikias im platonischen Dialog "Laches" an Lysimachos richtet: "Du scheinst nicht zu wissen, dass, wer mit Sokrates in Berührung kommt und sich in ein Gespräch mit ihm einlässt, dass der, mag auch wirklich vorher die Unterredung mit etwas ganz anderem begonnen haben, unbedingt von ihm in einem fort im Gespräche so lange herumgeführt wird, bis er sich in die Notwendigkeit versetzt sieht, Rechenschaft von sich zu geben, wie er jetzt lebt, und wie er die verflossene Lebenszeit hingebracht hat"3. (Fs)

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