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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Prinzipien, Regeln und Normen: Tugendethik - moderne Moralphilosophie, Expertenmoral; Letztbegründung - nichthintergehbaren "sittliche" Gegebenheiten

Kurzinhalt: Tugenden sind nicht als "Mittel" oder Dispositionen zu verstehen, um das moralische Gesetz zu erfüllen, sondern umgekehrt ist das moralische Gesetz ein "Mittel" bzw. das Prinzip, mit dessen Hilfe wir die Tugenden erwerben können

Textausschnitt: 26a In einer rationalen Tugendethik klassischen Zuschnitts haben Prinzipien, Regeln und Normen jedoch einen anderen Status als in der modernen Moralphilosophie. Sie drücken letztlich Strebensziele aus, die, gleichsam anthropologisch rückgekoppelt, auf das für den Menschen Gute gerichtet sind und dieses auf der Ebene des grundlegend-Allgemeinen zum Ausdruck bringen. "Sittliche Tugend" meint hier nicht die Disposition, Gesetze, Normen oder Regeln zu erfüllen sondern vielmehr der vollkommene Modus des Erfüllens dessen, was in Gesetz, sittlicher Norm oder moralischer Regel zum Ausdruck kommt: nicht als Erfüllung einer Norm, sondern in zugleich affektiver wie auch kognitiver Ausrichtung auf das durch Prinzipien und entsprechende Normen ausgewiesene Gute. Gemäß einem tief sitzenden Vorurteil habe es auch der Aristotelismus eines Thomas von Aquin nicht weiter gebracht als zu einer Auffassung der Tugenden als "habits of obedience to laws"1. Eher müsste man jedoch sagen, für Thomas brächte gerade das (natürliche) Gesetz - die "Lex naturalis" - die Rationalität der Tugenden zum Ausdruck. Tugenden helfen nicht, ein uns gleichsam gegenüber stehendes oder auferlegtes moralisches Gesetz zu erfüllen; als "natürliches Gesetz" ist das Moralgesetz vielmehr das die Tugend überhaupt erst ermöglichende kognitive Grundprinzip. Tugenden sind nicht als "Mittel" oder Dispositionen zu verstehen, um das moralische Gesetz zu erfüllen, sondern umgekehrt ist das moralische Gesetz ein "Mittel" bzw. das Prinzip, mit dessen Hilfe wir die Tugenden erwerben können. Aber ein solches "Mittel" ist es nicht als ein uns Gegenüberstehendes oder uns Auferlegtes, sondern als Strukturprinzip praktischer Vernunft selbst. Das grundlegende Phänomen ist immer der Mensch als kognitiv-strebendes Wesen, nicht aber Normen, Regeln oder Gesetze. Normen und Regeln sind normative Aussagen, abgeleitete sprachliche Universalien, mit denen wir uns über das praktisch Gute verständigen. Praktische Prinzipien hingegen, insofern wir sie, wie es im Folgenden der Fall sein wird, von Normen und Regeln unterscheiden, sind zugleich intelligible Bewegungsursachen von Praxis - also Prinzipien der Praxis selbst, und nicht einfach normative Aussagen über sie - und damit zugleich Grund aller Intelligibilität des jeweils konkret Guten, wie es das Handlungsurteil zum Gegenstand hat. Damit sind sie Handlungs- und Moralprinzip in einem. (Fs) (notabene)

26b Tugendethik in diesem Sinne fragt nach den Bedingungen dafür, dass ein solches strebendes Wesen vernünftig ist bzw. erstrebt, was allein vernünftigerweise als Gutes erstrebt werden kann. Dazu rekurriert sie in der verschiedensten Weise auf das "von Natur aus Vernünftige". Allen Formen klassischer Tugendethik gemeinsam ist, das "Natürliche" nicht naturalistisch, sondern als das wirklich und prioritär für den Menschen Gute und ein Ideal gelungenen Menschsein zu verstehen1. Das "von Natur aus Vernünftige" wird bei Thomas von Aquin dann als - die moralische Kompetenz des Handlungssubjekts und Praxis überhaupt begründende - originäre Erkenntnisleistung praktischer Vernunft, die sich zur sittlichen Tugend ausweitet, und als durch diese konstituiertes "natürliches Gesetz" interpretiert. (Fs) (notabene)
26b Tugendethik in diesem Sinne fragt nach den Bedingungen dafür, dass ein solches strebendes Wesen vernünftig ist bzw. erstrebt, was allein vernünftigerweise als Gutes erstrebt werden kann. Dazu rekurriert sie in der verschiedensten Weise auf das "von Natur aus Vernünftige". Allen Formen klassischer Tugendethik gemeinsam ist, das "Natürliche" nicht naturalistisch, sondern als das wirklich und prioritär für den Menschen Gute und ein Ideal gelungenen Menschsein zu verstehen1. Das "von Natur aus Vernünftige" wird bei Thomas von Aquin dann als - die moralische Kompetenz des Handlungssubjekts und Praxis überhaupt begründende - originäre Erkenntnisleistung praktischer Vernunft, die sich zur sittlichen Tugend ausweitet, und als durch diese konstituiertes "natürliches Gesetz" interpretiert. (Fs) (notabene)

27a Damit zielt eine so verstandene Tugendethik - wie alle Tugendethik - auf die Rehabilitierung der moralischen Kompetenz des Handlungssubjekts ab, wird diese Kompetenz aber zugleich an bestimmte Bedingungen knüpfen. Nicht um eine Letztbegründung von Ethik geht es dabei, sondern um den Aufweis von nichthintergehbaren und letzten sittlichen "Gegebenheiten", die zwar diskursiv nicht ableitbar sind - sie sind vielmehr Ausgangspunkt und Voraussetzung jeglichen ethischen Diskurses -, jedoch, wie gesagt, jedem Handlungssubjekt als Einzelnem "natürlicherweise" offen stehen. Dies freilich nicht im Sinne eines besonderen "Wertfühlens" im Sinne Max Schelers oder Nicolai Hartmanns, das als ein von praktischer Vernunft unterschiedenes Organ der Weiterkenntnis verstanden wird, sondern als Ausgangspunkt und damit Bestandteil praktischer Vernünftigkeit selbst. Der Auffassung, dass ethische Geltungsansprüche nur noch im Medium der Intersubjektivität einsichtig gemacht werden können, wird dabei mit der Behauptung eines unmittelbar möglichen und auch unausweichlichen Gegebenseins dessen, was alle Moral, ja die Sphäre des Moralischen überhaupt begründet, entgegengetreten1. Diese Gegebenheiten sind an sich keineswegs strittig: Dass es für uns gut ist, zu leben, uns zu erhalten, in der Gemeinschaft mit anderen Menschen zu leben, vernünftig zu handeln, Wahrheit zu erkennen, die verdienten Früchte unserer Arbeit zu ernten, uns mit dem anderen Geschlecht zu verbinden, uns zu reproduzieren u. ä. ist gewöhnlicherweise auch heute nicht Gegenstand des Streites. Strittig ist aber nicht nur die Gewichtung, sondern vor allem die Interpretation dieser "Güter". Man kann sie nämlich als bloßen "Rohstoff und materialen Ausgangspunkt einer erst noch zu leistenden, im geschichtlichen Prozess immer wieder neuen individuellen und gesellschaftlichen Wert-Schöpfung deuten, durch die sich humane Identität und entsprechende moralische Normen erst als geschichtlich und gesellschaftlich bedingte jeweils herausbilden, oder aber auch als eben nichthintergehbare "natürliche" Voraussetzungen praktischer Vernünftigkeit und von ihnen abhängiger Wert-Schöpfung und humaner Identität. Das muss nicht naturalistisch gemeint sein, und ist es hier ebensowenig, wie es in der dieselbe Haltung einnehmenden Tradition des Naturrechts gemeint war. Eine Tugendethik in klassischer Tradition repräsentiert jedenfalls eine gewissermassen "naive" Interpretation dieser Gegebenheiten als Prinzipien d. h. eben nichthintergehbare Ausgangspunkte aller praktischen Vernünftigkeit, verlangt aber auch - in diesem Sinne nicht "naiv" und vor allem nicht naturalistisch - eine ethische Klärung dieser Gegebenheiten im Horizont von Vernünftigkeit2. (Fs)
28a Damit ist aber Tugendethik das Gegenteil von "Expertenmoral". Sie unterschiedet sich hier wesentlich von Auffassungen von Ethik, die, wie die Diskursethik, nur aus intersubjektiven Verständigungsprozessen hervorgehende, auf Konsens beruhende Geltungsansprüche akzeptiert, oder, wie der utilitaristische Konsequentialismus, eine Fülle von Folgen aller Art für einen möglichst großen Kreis von Betroffenen in ihr nutzenmaximierendes Kalkül einzubeziehen hat, und die deshalb eher die Vernunft von Ethikkommisionen als von moralisch kompetenten Alltags-Handlungssubjekten reflektieren (was nicht heißt, dass diese Subjekte von Ethikkommissionen nicht entscheidende Hilfen erfahren können bzw. dass solche Kommissionen für Entscheidungsprozesse innerhalb von Institutionen, z. B. Krankenhäusern, nicht von Bedeutung sein können). Tugendethik reproduziert nicht die Vernunft von philosophierenden oder wissenschaftlich aufgeklärten Subjekten - obwohl sie natürlich auch für diese einschlägig ist -, sondern die Vernunft der Person als moralische Subjekt tout court, so wie wir alle solche Subjekte sind, die ein Leben führen und dieses eben "gut" zu führen beabsichtigen. Was dieses "gut" bedeutet und beinhaltet, nennen wir "Moral", und Ethik ist davon die Philosophie. (Fs)
28b Die erwähnten, die moralische Kompetenz des Handlungssubjekts begründenden sittlichen Gegebenheiten werden in der vorliegenden Version einer rationalen Tugendethik als "das von Natur aus Vernünftige" bezeichnet. Es handelt sich dabei nicht um Letztbegründung, denn diese ist nicht möglich, wohl aber um den Aufweis eines "Letzten" oder "Ersten" (je nach dem, von welcher Seite her man die Dinge betrachtet)1. Diese Gegebenheiten, das "von Natur aus Vernünftige" und entsprechende praktische Prinzipien werden nicht "begründet" oder "abgeleitet", sondern eher gefunden. (Fs) (notabene)

28c Für die Rehabilitierung der moralischen Kompetenz des Handlungssubjekts muss allerdings ein Preis bezahlt werden. Der Preis besteht erstens darin, dass man nicht mehr alle Interessen und Präferenzen solcher Subjekte gleich gewichten kann. "Nutzen" ist hier nie, utilitaristisch, Erfüllung der Präferenzen einer möglichst großen Zahl von Betroffenen, und normative Richtigkeit ist nie, wie in der Diskursethik, das zwanglose Zusammenstimmen sittlicher Normen mit den (subjektiven) Interessen aller Diskursteilnehmer. Zweitens behauptet Tugendethik in klassischer Tradition, dass moralische Kompetenz wiederum einen Zusammenhang besitzt mit der moralischen Verfasstheit des Subjekts. Sittliches Gutsein ist selbst, so wird behauptet, bis zu einem gewissen Grad Bedingung für die Erfassung des Guten. "Sittliche Tugend" ist gerade jene Verfasstheit von Handlungssubjekten, in denen diesen das in Wahrheit Gute auch wirklich als Gutes erscheint. Gegenwärtige Virtue ethics denkt hier in manchen Spielarten relativistisch2. Dadurch unterscheidet sie sich von der klassischen Tradition, die zwar das der Tugend entsprechende Gute auch als ein Gutes "in Bezug auf uns" betrachtet, dennoch aber, zumindest in der Aristotelischen Form, am Begriff der praktischen Wahrheit dieses Guten festhielt. Diese Art von Wahrheit besteht jedoch nicht in der Übereinstimmung von Urteilen mit irgendwelchen außerhalb des Subjekts liegenden Sachverhalten, sondern in der Übereinstimmung des jeweils konkreten Urteils über das praktisch Gute (und dem entsprechenden Wollen) mit dem richtigen Streben. Natürlich ist "richtiges Streben" selbst ein Sachverhalt und die Richtigkeit dieses Strebens impliziert einen Bezug zur "objektiven Welt", aber es handelt sich um jene "objektive Welt", die das Handlungssubjekt gerade selber ist.3. Aber auch intersubjektiv erzeugte Richtigkeit im Sinne von Habermas kommt nicht ohne einen "Bezug zur objektiven Welt" aus, ist doch der jeweils andere, dem als Mitglied einer Kommunikationsgemeinschaft und als Diskursteilnehmer jeweils Anerkennung als Gleicher entgegenzubringen ist, gerade "objektive Welt", auf die ich mich als Subjekt beziehe. Die Behauptung der grundlegenden moralischen Richtigkeit solcher gegenseitiger Anerkennung - und diese Behauptung ist gleichsam die Seele aller Diskursethik - besitzt dann also durchaus den Charakter einer Wahrheitsbehauptung. (Fs)

29a Die Richtigkeit des Strebens entstammt grundlegend den genannten, nicht vom Subjekt selbst gewählten, wohl aber diskursiv aufweisbaren letzten moralischen Gegebenheiten - den Prinzipien -, ist damit Grundlage der "Richtigkeit" oder praktischen Wahrheit aller Handlungsurteile, bleibt aber selbst hinter dem konkret zu Tuenden zurück: Letzteres kann nicht zwingend aus den Prinzipien abgeleitet werden, denn Prinzipien sind bezüglich konkreter praktischer Handlungsleitung gleichsam unterbestimmt. Wohl aber kann das konkret Gewollte und Getane als dem Prinzip widersprechend erkannt werden. Praktische Prinzipien sind damit Grundlage und Grenze von Richtigkeit und als solche Grund aller praktischen Wahrheit. In einer Aristotelische Tugendethik ergänzenden praktischen Prinzipienlehre liegt einer der entscheidenden Beiträge des Thomas von Aquin für die philosophische Ethik1. (Fs)

30a Damit erst erhält allerdings Ethik jenes Profil, das sie, mit Ausnahme des Hedonismus der Kyrenaiker, typischerweise bereits in ihrer antiken Form besaß: Sie ist eine Lehre vom "guten Leben" in dem Sinne, dass sie uns dazu zwingt, unsere Prioritäten und Maßstäbe zu überdenken und unter Umständen unser Leben zu revidieren. In jedem Fall aber kann sie dieser Auffassung gemäß nur von Subjekten betrieben werden, die nach einer Verbesserung ihrer Lebenspraxis streben. Gerade der eudämonistische Charakter klassischer Tugendethik verlangt nach der vernunftorientierten Revision spontaner, unreflektierter Glücksvorstellungen. Das Motiv der Verbesserung der Lebenspraxis ist in der Kantischen Ethik noch gegenwärtig, allerdings in einer bereits rudimentären, weil anti-eudämonistischen Form. Kants Ethik ist nicht ein Programm der Reform des "inneren Menschen", sondern eher ein Programm der Unterwerfung der Amoralität, der Bosheit und des Eigennutzes des inneren Menschen unter die Ansprüche der Moralität. Im Utilitarismus und in der Diskursethik finden sich solche Motive freilich kaum mehr. Vielmehr zielen sie in eher klassischer Manier auf die Verbesserung der Praxis und auf "Reform" im weitesten Sinne - sonst wären sie keine Ethik -allerdings auf die Verbesserung einer das Subjekt transzendierenden gesellschaftlichen Praxis. Utilitaristische Ethik funktionalisiert dabei das Handlungssubjekt zum Zwecke der Optimierung von Weltzuständen. Die Diskursethik hingegen möchte Einzelinteressen gesamtgesellschaftlich in zwangloser Harmonie zum Besten aller koordinieren. Damit transponiert sie das wesentliche Motiv Kantischer Rechtsphilosophie in die Ethik. (Fs)

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