Datenbank/Lektüre


Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Normenethische Ansätze: Utilitarismus, Konsequentialismus, Diskursethik (Habermas, Apel) vs. Tugendethik; Perspektive: des Beobachters - der ersten Person; Moralität - Eigeninteresse

Kurzinhalt: Diskursethik ... wird deshalb praktische Wahrheit durch konsensuell erzeugte Richtigkeit ersetzen

Textausschnitt: 18a Pointiert normenethische Ansätze philosophischer Art finden sich gegenwärtig vor allem in der Gestalt des Utilitarismus und der Diskursethik. Die Kantische Ethik hingegen ist nicht so sehr eine Normenethik, sondern eher eine Maximenethik1. Allerdings teilt sie mit Utilitarismus und Diskursethik die zentrale Charakteristik jeglicher Normenethik, Handlungen aus der Beobachterperspektive zu beurteilen, von einem Standpunkt außerhalb des handelnden Subjekts also. Dies ist natürlich wiederum Ausdruck der typisch modernen Entgegensetzung von Moralität und Eigeninteresse, die dazu führt, Moral dort beginnen zu lassen, wo das eigene Interesse durch die Interessen der anderen eingeschränkt wird. Tugendethiken in klassischer Tradition hingegen sind eudämonistisch und damit Ethiken der "Ersten Person", d.h. für sie lautet die grundlegende ethische Frage, worin das für den Handelnden Gute besteht, und zwar aus der Perspektive des Handelnden (was, wie bereits gesagt, nichts mit Egoismus zu tun hat, da in einem richtig, nicht hedonistisch fehl interpretierten Eudämonismus auch das Gut des anderen zum Gut des Handelnden gehört2). Dennoch bleiben bei Kant die subjektiven Handlungsmaximen zentral und sie drücken Wünsche und Interessen des Handelnden auf einer allerdings noch vor-moralischen Ebene aus. Dass es ein subjektives Interesse am Guten gibt, das nicht selbst wiederum "egoistisch" sondern bereits moralisch sein könnte, ist auch für Kant undenkbar. (Fs) (notabene)

18b Utilitarismus und Diskursethik - auch Mischformen sind möglich: vertragsethische Theorien tragen z. B. utilitaristische und diskursethische Züge - verfehlen, in je verschiedener Weise, aber konsequenter als Kantische Ethik, was hier als die "Perspektive der Moral" verstanden wird. Wie zu zeigen ist, klammert der Utilitarismus (oder Konsequentialismus) mit seinem eventistischen Begriff von Praxis gerade den handelnden Menschen zugunsten der Optimierung der durch sein Handeln verursachten Folgen und Sachverhalte aus. Konsequentialisten3 gehen davon aus, dass der Handelnde verpflichtet ist, jeweils jene Handlung auszuführen, durch die er voraussichtlich die Folgen für alle Betroffenen zu optimieren vermag. Konsequentialisten halten es nicht nur für evident, dass eine Handlung mit besseren Folgen einer solchen mit weniger guten Folgen vorzuziehen ist; ihnen gemäß ist dies auch der einzige Gesichtspunkt, unter denen die sittliche Richtigkeit von Handlungen sinnvollerweise beurteilt zu werden vermag. Mit tugendethischen Argumenten können sie deshalb wenig anfangen, denn für einen Konsequentialisten kann Tugend höchstes eine Name für die Disposition sein, jeweils die richtige, d.h. folgenoptimale Handlung auszuführen. Konsequentialisten kommen zu dieser Auffassung, weil sie gerade ausklammern, was für einen Tugendethiker zentral ist, dass nämlich das Handlungssubjekt selbst bzw. seine Handlungswahl gegenüber den von seinen Handlungen betroffenen Subjekten einen privilegierten Status besitzt, so dass Urteile der folgenden Art möglich sind: Eine Handlung x (z. B. das Töten eines Menschen in einem Erpressungsfall, um damit den Tod von vielen anderen zu verhindern) hätte zwar für alle Betroffenen bessere Folgen als die Unterlassung dieser Handlung; dennoch darf ich sie nicht ausführen, weil ich durch ihre Ausführung eine Ungerechtigkeit begehen und ein ungerechter Mensch würde. Aus konsequentialistischer Warte sind solche Urteile nicht möglich, da "gerecht" immer nur auf Grund der Handlungsfolgen für alle Betroffenen beurteit werden kann, wobei Handlungen und Unterlassungen gleicher Status zuerkannt wird. Kritiken tugendethischer Kritik am Konsequentialismus sind natürlich genau dann zirkulär, wenn sie bereits einen konsequentialistischen Begriff von "Tugend" voraussetzen4. In der Tradition des Utilitarismus besitzt also der Konsequentialismus die Eigenart, als "moralisch" nur gelten zu lassen, was die Interessen aller möglicherweise Betroffenen einschließt. Konsequentialistisch begründete moralische Normen reflektieren dann notwendigerweise diesen intersubjektiven Standpunkt. (Fs) (notabene)

19a Diskursethische Ansätze auf der anderen Seite scheinen von Anfang an den moralischen Diskurs des Einzelsubjekts zugunsten des intersubjektiv erzielten Konsenses bezüglich der Etablierung von gesamtgesellschaftlich, für alle Betroffenen akzeptierbaren Normen zurückzustellen oder gar für unmöglich zu erachten. Die Diskursethik setzt damit zum einen als moralische Subjekte konstituierte Diskursteilnehmer bereits voraus (ohne dafür allerdings eine ethische Theorie anzubieten, es sei denn, wie bei Habermas, in der Form sozialpsychologischer Entwicklungstheorien, oder, im Falle Apels, in einer, von Habermas wiederum abgelehnten, transzendentalen Analyse des Apriori kommunikativer Praxis, das als ethische Letztbegründung verstanden wird5) und verlangt zum andern nach einem die diskursethische Etablierung von Normen ergänzenden Anwendungsdiskurs, welcher den Charakter eines Klugheitsdiskurses besitzt6, in dem dann durchaus z. B. auch konsequentialistische Gesichtspunkte zum Tragen kommen können und - aber gewissermaßen zu spät, als dass die Diskursethik dazu noch etwas zu sagen hätte - sämtliche moralischen Grundfragen auftauchen. (Fs) (notabene)

20a Die Diskursethik manifestiert symptomatisch die Signatur moderner Moralphilosophie, insofern sie als kognitivistische Ethik davon ausgeht, dass unter neuzeitlichen Bedingungen einer "nachmetaphysischen" Epoche praktische Vernunft nicht mehr eine Antwort auf das "für mich Gute" zu finden vermag, sondern allein noch für das intersubjektiv und durch Konsens feststellbare "Was soll man tun?" zuständig sein kann7. Das führt folgerichtig zur Einsicht, dass ein Diskursethik eigentlich erst als Diskurstheorie des Rechts und der Politik durchführbar ist8, das Diskursprinzip selbst dann gar nicht mehr als Moralprinzip verstanden wird9, was wiederum zur Diagnose einer "definitiven Auflösung" der Diskursethik geführt hat10. Damit zeigt sich jedoch: Diskursethik ist keine Ergänzung zur praktischen Vernunft des Einzelnen, sondern höchstens eine Theorie darüber, wie gesellschaftliche Geltung von sittlichen Normen - letztlich als rechtliche Normen - erzeugt werden kann. Damit wird sie zur politischen Ethik - eine Tendenz, die ihr auf Grund ihres nur intersubjektive Vernunft und entsprechendes verständigungsorientiertes Handeln als Rationalitätskriterium geltend lassenden Charakters von Anfang an innewohnte11. (Fs) (notabene)

20b Tugendethik braucht freilich mit der Diskursethik nicht prinzipiell in Konkurrenz zu treten. Sofern man die politisch-rechtsethische Logik der Diskursethik und damit ihre im Gegensatz zur Tugendethik intersubjektive Legitimationsbasis unterstreicht, handelt es sich nicht eigentlich um alternative Paradigmen. Aus der Sicht klassischer Tugendethik wird man jedoch feststellen müssen, dass die Diskursethik gerade den eigentlich fundamentalen Gegenstand der Ethik verfehlt: das handelnde Subjekt in seinem ursprünglichen Streben nach dem Guten und seinem Interesse an der Richtigkeit dieses Strebens und der entsprechenden praktischen Wahrheit seines konkreten Tuns. Diskursethische Gesichtspunkte sind für eine politische Ethik, die eher Institutionenethik und Rechtsethik als Tugendethik ist, durchaus einschlägig. Institutionelle politisch-ethische Diskurse sind wesentlich auf Konfliktlösung angelegt. Und genau das will die Diskursethik (während hingegen utilitaristische Rationalität Konflikte zugunsten rationaler Sozialtechnologie eigentlich weg-argumentiert). Diskursethik verlagert das klassische, noch bei Kant dominierende Thema des Konflikts zwischen falschen, egozentrischen, unvernünftigen und wahren Interessen - gleichsam Kant in Rousseau rückübersetzend - auf die Ebene des gesellschaftlichen Diskurses, in dem ein für alle zwanglos akzeptierbarer Konsens die Vernunft der Moral repräsentiert, die alle partikulare, dem bloßen (zumindest unaufgeklärten) self interest verhaftete Vernunft hinter sich lässt. Die diskursethischen Erfordernisse der zwanglosen und sich auf alle Betroffenen erstreckenden Akzeptabilität der voraussichtlichen Folgen einer allgemein geltenden Norm und der diskursiven und konsensgeprägten Einlösung von normativen Geltungsansprüchen in einer idealen Sprechsituation werden damit zu alles tragenden Moralprinzipien, welche allerdings durchaus die "Anwendung eines substantiell gehaltvollen moralischen Gesichtspunktes"12 einschließen, eines Gesichtspunktes allerdings, so wäre zu ergänzen, der eher für die politischrechtliche Ebene relevant zu sein scheint. Denn er begründet nicht substantielle Auffassungen über das Gute, sondern ist eher ein Prinzip der politischen Gerechtigkeit, dem gemäß - etwa im Sinne von Rawls' "overlapping consensus" - nicht allgemein akzeptierte bzw. akzeptierbare Auffassungen über das Gute von der öffentlichen Geltung auszuschließen sind13. (Fs)

21a Als Tugendethik beschäftigt sich "Die Perspektive der Moral" gerade mit der aller Möglichkeit von intersubjektiven Diskursen und verständigungsorientiertem Handeln vorausliegenden Ebene. Diese Ebene umfasst ein Zweifaches: Die Bedingungen dafür, dass diskursives Verhalten, Verständigungspraxis, überhaupt möglich ist (denn sie ist, was die Diskursethik nicht leugnet, aber auch nicht thematisiert, nur unter Subjekten möglich, die bereits vorgängig als moralische Subjekte mit entsprechenden Überzeugungen und einem für alle verständlichen moralischen Sprache konstituiert sind14); und zweitens umfasst sie die grundlegenden möglichen Inhalte von solchen Diskursen. Diskurse ohne nicht-formale d.h. substantielle Rationalitätskriterien - vornehmlich, aber nicht ausschliesslich, Gerechtigkeitskriterien - sind nicht möglich, nicht einmal im politischen Kontext. Dazu kommt dann aber noch eine dritte Ebene, die jedem normbezogenen Diskurs nach- und gleichzeitig übergeordnet ist und auch noch die Ebene von sog. Anwendungskursen hinter sich lässt: jene des konkreten Handelns des einzelnen Subjekts. Dazu bedarf es wiederum einer Ethik des partikularen Handlungsurteils (Klugheit). Hier ist keine intersubjektive Verständigung mehr gefragt, sondern persönliche Verantwortung. Das Moralische ist ja nicht unbedingt das, worüber Konsens besteht, sondern, wie Robert Spaemann betont, unter Umständen gerade, was aus allem Konsens ausbricht, ja ihm widerspricht, und dabei mit dem Anspruch des Richtigen auftritt15. Eine Ethik, die wie die Diskursethik, nur eine intersubjektive Verständigung über das Gute zulässt, muss diese letztlich entscheidende Ebene verfehlen bzw. ausblenden. Sie wird deshalb praktische Wahrheit durch konsensuell erzeugte Richtigkeit ersetzen16. (Fs) (notabene)

22a Im Folgenden wird es darum gehen, eine Einführung in die philosophische Ethik vorzulegen, der es besonders daran gelegen ist, gegenüber den verschiedenen Formen von Normenethik die genannte "Perspektive der Moral" herauszuarbeiten. Das hat nun freilich nichts mit "Moralismus" zu tun, sondern mit der Erkenntnis, dass sich die Antwort auf die Frage nach der Begründung sittlicher Normen bereits dort entscheidet, wo sie noch gar nicht ausdrücklich gestellt werden kann, nämlich auf der Ebene der Einsicht darin, was denn überhaupt "menschliches Handeln", "praktische Vernunft", kurz: was überhaupt der handelnde Mensch ist. Auffassungen darüber werden von Ethikern oft stillschweigend vorausgesetzt oder erst im Nachhinein, wenn alles schon gelaufen ist, erörtert. Diese Auffassungen sind es jedoch, die letztlich alles bestimmen. Gerade dazu lassen sich in der von Aristoteles über Thomas von Aquin verlaufenden Tradition der Tugendethik entscheidende Grundlagen erarbeiten. Hier sind nun allerdings noch einige Abgrenzungen und Differenzierungen notwendig. (Fs) (notabene)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt