Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Sexualiät und Verantwortung Titel: Sexualität und Verantwortung Stichwort: Prokreative Verantwortung; Tugend: Keuschheit, Tugend des Maßes (temperantia); Natur Kurzinhalt: ... sagt Thomas v. Aquin, die sinnlichen Strebungen seien "von Natur aus darauf angelegt, der Vernunft zu gehorchen": Textausschnitt: 79b Die Rede von "Selbstkontrolle" und "Selbstbeherrschung" ist freilich mehrdeutig. Sie muß sogleich präzisiert werden: Als Teil der Tugend der Keuschheit ist nämlich prokreative Verantwortung nicht mit jeder Art solcher Integration vereinbar. Da prokreative Verantwortung ein Aspekt von Keuschheit ist, letztere jedoch die Tugend (habituelle Vollkommenheit) eines sinnlichen Strebevermögens involviert, ist diese Integration solcher Art, daß sie nun tatsächlich auch dieses Streben gemäß der anthropologischen Wahrheit des Menschen als leibgeistige Wesenseinheit vervollkommnet. (Fs)
79c Dazu zunächst folgende Bemerkung: Der Leib und seine sexuelle Triebstruktur sind nicht "Natur" im Sinne der Natur, die uns umgibt, "in der wir leben" oder "in der wir uns befinden" und "auf die wir handelnd einwirken". Die sexuelle Triebstruktur des menschlichen Leibes gehört nicht zu einer solchen Objekt-Welt oder Objekt-Natur, sondern zu jener Natur, die das wesentliche, substantielle Sein des Menschen mitkonstituiert und die deshalb zur Subjektivität des Menschen dazugehört. Wir sind ja, wie gesehen wurde, nicht einfach Geistwesen, die sich "in einer leiblichen Umwelt befinden". Wir "haben" nicht einen Leib, sondern wir sind Leib. Die sexuellen Triebe dieses Leibes sind also dazu berufen, durch das Leben des Geistes informiert zu werden, an diesem Leben teilzuhaben, das heißt: selbst Subjekt dieses geistigen Lebens zu werden. Daraus folgt: Akte prokreativer Verantwortung bestehen nicht in irgendeiner Art rationaler oder willentlicher "Kontrolle", "Leitung" oder gar "Unterdrückung" sexueller Triebe. Sexualität ist nicht einfach Objekt prokreativ verantwortlichen Handelns, sondern selbst Subjekt eines solchen Handelns und damit tragender Bestandteil desselben. Handlungen des Typs "prokreative Verantwortung" sind nicht Handlungen, die sich einfach auf Sexualität als ihren Gegenstand beziehen, sondern Handlungen, die selbst irgendwie Akte des Sexualtriebes selbst sind. Die leib-geistige Wesenseinheit des Menschen verlangt gerade, daß das Sexualverhalten - die sexuellen Akte selbst - durch die Erfordernisse der Verantwortung informiert seien. (Fs)
80a Dies gilt generell für die sittliche Tugend der temperantia (die Tugend des "Maßes"), zu der ja die Keuschheit gehört. Die Tugend der temperantia meint Modifizierung des Begehrens nach dem Maß der Vernunft; sie meint nicht, dieses Begehren zu unterdrücken, zu minimalisieren oder gar auszuschalten, sondern in dieses "das Siegel der Vernunft einzuprägen"1, - und damit auch das Siegel der Erfordernisse der Vernunft, um so das sinnliche Streben in der Weise zu vervollkommnen, daß es selbst verfolgt, was der Vernunft, d.h. was prokreativer Verantwortung entspricht. (Fs)
80b Im Anschluß an Aristoteles sagt Thomas v. Aquin, die sinnlichen Strebungen seien "von Natur aus darauf angelegt, der Vernunft zu gehorchen": "Und so können das konkupiszible und das iraszible Strebevermögen Subjekt menschlicher Tugend sein. Insofern sie nämlich an der Vernunft teilhaben, sind sie Prinzip der menschlichen Handlung"2. Der springende Punkt der Tugenden des Maßes und des Starkmutes besteht also gerade darin, daß sie das sinnliche Begehren zu vernunftgemäßen Handlungsprinzipien werden lassen, d.h. zu handlungsauslösenden und handlungsleitenden Ursachen, so daß die Anforderungen von Vernünftigkeit gerade mittels der sinnlichen Antriebe das Handeln gestalten. Das ist gleichbedeutend mit der genannten Integration dieser Antriebe in den Kontext der menschlichen Handlung, in Übereinstimmung mit ihrer grundlegenden anthropologischen Wahrheit (leib-geistige Wesenseinheit des Menschen). Dies trifft offensichtlich nicht auf jene leiblichen Funktionen zu, die nun eben nicht "von Natur aus darauf angelegt sind, der Vernunft zu gehorchen", wie das Schlagen des Herzens, der Blutkreislauf, die Funktionen der Leber, des Verdauungsapparates usw. Diese können nie Prinzipien menschlicher Handlungen sein (sondern höchstens ihr Gegenstand, z.B. Gegenstand von ärztlichen Handlungen, Eingriffen usw.), denn sie sind simple organische Funktionen des Leibes. Freilich sind auch in der Sexualität solche rein organischen Funktionen impliziert. Aber der Sexualtrieb selbst ist viel mehr als eine solche Funktion. Er ist ein der Herrschaft von Vernunft und Wille unterliegendes menschliches Streben, das zum Gegenstand hat, was wir ein menschliches Gut nennen, wie es das handelnde Subjekt in seinem freien, vernunftgeleitetem Willen entspringenden Handeln verfolgt. (Fs)
81a Sittliche Tugend besteht deshalb nie in Akten des Zurückdrängens oder Unterdrückens sinnlicher Neigungen und der diesen eigentümlichen Güter oder Ziele. Solche Akte können notwendig sein als Bestandteil des inneren Kampfes, durch den eine Tugend erworben und ihr Besitz bewahrt wird. Denn "durch Enthaltsamkeit wird der Mensch gesammelt und zurückgeführt in die Einheit, von der er entfernt ins Vielerlei zerflossen war"1. Tugend selbst jedoch in dieser Weise zu verstehen, entspräche einer eher spiritualistischen Auffassung ihrer Natur und würde deshalb letztlich anthropologischen Dualismus implizieren. Akte der temperantia und folglich solche der Keuschheit und prokreativer Verantwortung werden deshalb immer Akte sein, deren Subjekt irgendwie das in Übereinstimmung mit der Vernunft modifizierte sinnliche Streben selbst ist. Sie werden also Akte des Sexualverhaltens sein, d.h. nicht nur Akte eines Verhaltens, das Sexualität zum Gegenstand hat und das in diese durch irgend eine Maßnahme (analog zum ärztlichen Handeln) eingreift. Akte prokreativer Verantwortung als Tugend sind also Akte, in denen nicht einfach die Vernunft sich verantwortlich einsetzt, sondern Akte, in denen die ganze menschliche Person, auch in der Dimension ihrer Leiblichkeit, auf jenes Gute zielt, das der Wille gemäß dem Gebot der Vernunft verfolgt. Handlungen des Typs "prokreative Verantwortung" werden demnach Handlungen sein, in denen dem Leib und seiner Triebstruktur die Stellung eines Handlungsprinzips zukommt. (Fs)
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