Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Sexualiät und Verantwortung Titel: Sexualität und Verantwortung Stichwort: Ungenügen: Untrennbarkeitspinzip; Ganzheitsprinzip, Beispiel: Lüge Kurzinhalt: Warum sollte die Ausschaltung der prokreativen Funktion einzelner Sexualakte notwendigerweise auch ihren prokreativen Sinngehalt ausschalten ...? Textausschnitt: 72c Mit dieser Bestimmung des "Objektes" des ehelichen Aktes dürfte nun geklärt sein, was mit dem Untrennbarkeitsprinzip gemeint ist. Aber was konnte damit bis jetzt gezeigt oder gar bewiesen werden? Dargelegt wurde, wie ein intentionales (willentliches) Sich-Verschließen gegenüber der prokreativen Dimension der leiblichen Liebesvereinigung objektiv das eigentliche Wesen dieser Vereinigung in eine Art von "Liebe" verändert, die mit der anthropologischen Wahrheit des Menschen im Widerspruch steht (d.h. sie widerspricht der Wesenseinheit von Leib und Geist). Im Zusammenhang mit dem hier zugrundegelegten Fall jedoch ist dies keineswegs bereits ein genügender Beweis für die These, daß Empfängnisverhütung tatsächlich ein solches Sich-Verschließen bedeutet. Deshalb sei an dieser Stelle hervorgehoben: Bis jetzt wurde noch kein Argument dafür vorgebracht, daß Empfängnisverhütung sittlich falsch ist. (Fs)
74a Der Grund dafür besteht darin, daß unser Fall auf der Voraussetzung gründet, die Vermeidung einer Schwangerschaft sei hier durch gerechtfertigte Gründe prokreativer Verantwortung gefordert; die Eheleute seien also hier und jetzt verpflichtet, eine Empfängnis zu vermeiden. Aufgrund dieser Voraussetzung könnte man ja zu Recht fragen, ob es denn, um diesem Erfordernis zu entsprechen, nicht auch dann möglich sei, voll und ganz den prokreativen Sinngehalt ehelicher Liebe und entsprechender sexueller Akte aufs Ganze gesehen aufrechtzuerhalten, wenn man die prokreative Wirksamkeit (oder "Funktion") der Sexualität von ihrem unitiven Ausdrucksgehalt lediglich auf der Ebene singulärer Vollzüge des ehelichen Aktes (d.h. "manchmal", "gelegentlich" oder "für eine bestimmte Zeitspanne") abkoppelt. Kontrazeptiver Sexualverkehr würde dann doch wohl seinen prokreativen Sinngehalt immer noch durch die grundsätzlich vorhandene, hinsichtlich der Weitergabe menschlichen Lebens offene Intentionalität beibehalten, durch die ein solches eheliche Leben ja insgesamt geprägt ist. "Wieso nicht", so ließe sich fragen, "Empfängnisverhütung anwenden, vorausgesetzt, wir sind gerade aus Gründen prokreativer Verantwortung dazu verpflichtet, eine Empfängnis zu vermeiden?" "Warum sollte die Ausschaltung der prokreativen Funktion einzelner Sexualakte notwendigerweise auch ihren prokreativen Sinngehalt ausschalten, vorausgesetzt, Empfängnisverhütung wurde gerade mit der Intention gewählt, der Weitergabe menschlichen Lebens auf verantwortliche Weise zu dienen?" "Warum eigentlich muß man die Verknüpfung der beiden Sinngehalte auch auf der Ebene einzelner Aktvollzüge wahren?" Und schließlich: "Wieso ist gerade nur periodische Enthaltsamkeit, d.h. Enthaltsamkeit von jenen Akten, die voraussichtlich Zeugungsfolgen haben können, das einzige sittlich vertretbare Verhalten, um in den gegebenen Umständen prokreative Verantwortung zu leben? Ist von einem solchen Erfordernis zu sprechen nicht einfach subtile Haarspalterei, reine Spitzfindigkeit, wobei die dafür einzig mögliche Rechtfertigung in der doch reichlich abstrakten Forderung zu erblicken wäre, die der menschlichen Natur eingeschriebenen biologischen Strukturen müßten eben respektiert werden, eine Forderung, die in der gegebenen Situation kaum als ein sittliches Erfordernis einsichtig gemacht werden kann?" (Fs) (notabene)
75a Genau an dieser Stelle wird von Kritikern der Enzyklika das sogenannte Ganzheitsprinzip angewandt. R. Mclnerny hat gezeigt, daß eine solche Anwendung hier unstatthaft ist1: Handlungen, die als einzelne Handlungsvollzüge, d.h. als intentionale Einzelhandlungen von ihrem Objekt her unsittlich sind, können nicht durch die Gesamtheit des Lebensvollzugs gerechtfertigt werden; so wie z.B. einzelne Lügen nicht durch ein in seiner Gesamtheit der Wahrhaftigkeit verpflichtetes Leben gerechtfertigt werden: sie bleiben Lügen. Vielmehr wird der Lebensvollzug als gesamter gerade durch einzelne Handlungen aufgebaut und geprägt: Der Lebensvollzug dessen, der hie und da lügt, ist im Gesamten weniger der Wahrhaftigkeit verpflichtet, als derjenige dessen, der immer die Wahrheit sagt. Die Anwendbarkeit dieser Argumentation setzt nun aber voraus, daß man zuvor gezeigt hat, daß die entsprechende Handlung nun eben als Einzelhandlung aufgrund ihres Objektes unsittlich ist. Erst dann vermag die obige Argumentation zu greifen. (Fs)
75b Der bloße Verweis auf das Untrennbarkeitsprinzip allein vermag nun aber im Falle der Empfängnisverhütung diese grundsätzliche Frage noch keineswegs zu beantworten. Wir brauchen einen weiteren argumentativen Schritt, der zeigen kann, daß Empfängnisverhütung tatsächlich dieses Prinzip in jedem einzelnen Fall verletzt. Das heißt: Wir benötigen ein Argument, das aufzuweisen imstande ist, daß das Untrennbarkeitsprinzip auch auf der Ebene einzelner Vollzüge sexueller Akte Gültigkeit besitzt und demnach das Ganzheitsprinzip hier nicht anwendbar ist. Dazu bedarf es nun einer zusätzlichen Vertiefung der handlungstheoretischen Analyse. (Fs)
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