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Autor: Mehrere Autoren: Handbuch der Kirchengeschichte

Buch: Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 5

Titel: Jedin, Hubert, Einführung

Stichwort: Absolutismus; Kirche - Welt; Verhältnis: Kirchen- und Allgemeine Geschichte

Kurzinhalt: ... daß die Kirche im Feld der politischen Kräfte weithin ihre Mitwirkung und in der Entwicklung des europäischen Geistes die Führung verloren hat

Textausschnitt: Va Die anderthalb Jahrhunderte der Kirchengeschichte seit dem »Westfälischen Frieden«, die der Gegenstand dieses Bandes sind, bedeuten für die Ausbildung der »Modernen Welt« eine Epoche, für die Kirche aber eine nur schwer allgemein zu charakterisierende Zeit, will man die Kriterien aus ihrem eigenen geschichtlichen Dasein gewinnen. (Fs)

Vb Im Hinblick auf das Verhältnis von Kirche und Welt wird man festzustellen haben, daß die Kirche im Feld der politischen Kräfte weithin ihre Mitwirkung und in der Entwicklung des europäischen Geistes die Führung verloren hat. Dies gilt nicht nur für die katholische Kirche, obwohl dieser Verlust bei ihr wegen ihrer Bedeutung für die Geschichte des Abendlandes und wegen ihrer innerkirchlichen Anlage auf die universale Weltgestaltung hin am deutlichsten hervortritt, sondern auch für die Kirchen des Protestantismus und die Ostkirchen. Die Christenheit ist nicht nur in Konfessionen getrennt, sie beginnt in wachsendem Maße an Kongruenz mit der Gesellschaft zu verlieren, in der sie lebt. Freilich wird angesichts der »öffentlich« gewordenen Geschichte gemeinhin übersehen, daß in diesen anderthalb Jahrhunderten und noch lange darnach die breiten Schichten des anonym bleibenden Volkes in der christlichen Tradition weiterleben, bis dann erst im 20. Jh. mit seiner totalen Öffentlichkeit auch noch die letzten Rückzugsgebiete dieses traditionellen Christentums mit der »Modernen Welt« konfrontiert werden. Auf diesen Fortbestand einer in Jahrhunderten gewordenen Lebensordnung, der dem historischen Blick durch die spektakulären Ereignisse der »großen«, mächtigen, aber nur von einer dünnen Schicht der Akteure gewirkten Geschichte zumeist verstellt ist, wird in diesem Band gelegentlich hingewiesen. Ihn deutlicher zu machen, ist eine Forschungsaufgabe gerade der Kirchengeschichte, die sich dabei die in letzter Zeit entwickelten sozialgeschichtlichen Methoden zunutze machen muß. (Fs)

Vc Auch die Komplexität im Gesamtbild der anderthalb Jahrhunderte von 1648 bis 1789, die man als »Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung« zu bezeichnen pflegt, ist kirchengeschichtlich bedeutsam. Spricht man mit Recht vom Verlust der geistigen Führung durch die Kirche, so muß man sogleich hinzufügen, daß die Kunst des Barock im Bau und in der Ausstattung von Kirchen und Klosteranlagen großartige Dokumente eines Geistes an die allgemeine Öffentlichkeit gebracht hat, in dem sich mathematische Rationalität und christliches Glaubensbewußtsein zu einer Einheit verbanden. Wer Voltaire als Repräsentanten des Zeitgeistes betrachtet, muß sich - auch wenn die kulturklimatischen Unterschiede zu beachten sind - zugleich vergegenwärtigen, daß Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel, Meister der geistlichen Musik und Höhepunkte der Musikgeschichte Europas schlechthin, Architekten wie B. Neumann und Künstler wie Tiepolo seine Zeitgenossen sind. Ist unser allgemeines Geschichtsbild von diesen anderthalb Jahrhunderten zu stark bestimmt von der Aufmerksamkeit für Erscheinungen, die »schon« die moderne Gesellschaft ankündigen, während verharrende und bewahrende Momente und religiöse Schöpfungen in der Kunst und der Musik zu gering veranschlagt werden, so wird diese Verzerrung noch schärfer dadurch, daß die Kirchengeschichte dieses Zeitraumes (auch in der Kirchenhistoriographie selbst) allzusehr im Rahmen der politischen Geschichte behandelt und die Geschichte der christlichen Spiritualität sowohl im Protestantismus wie im Katholizismus vernachlässigt wird. Ihr wird deshalb in diesem Band besondere Beachtung geschenkt. (Fs)

VIa Schließlich war bei der Einordnung dieser kirchengeschichtlichen Periode in die universale Geschichte das dem 19. Jh. entstammende kirchenhistorische Urteil über das Zeitalter der Aufklärung zu modifizieren. Ihre zunehmend antikirchlichen und auch antichristlichen Tendenzen sind eindeutig. Aber die sogenannte »zweite Aufklärung« in unserer Gegenwart öffnet den Blick dafür, wie stark bei aller Polemik die ungebrochene Existenz christlicher Überlieferung in den geistigen Bewegungen des 17. und 18. Jh. nachwirkt (Kap. 18). Die »Krise des europäischen Geistes« ist im Gange, aber die alten Ordnungen und die Gläubigkeit der Massen leben noch weiter. (Fs)

VIb Die Veränderung des Verhältnisses zwischen Kirchen- und Allgemeiner Geschichte wird kaum irgendwo sinnfälliger als in der Tatsache, daß der Dreißigjährige Krieg und der Westfälische Friede im Band »Reformation - Katholische Reform und Gegenreformation« noch selbstverständlicher Gegenstand zu sein hatten, während in dem vorliegenden Bande die internationalen Beziehungen und Veränderungen der europäischen Machtverhältnisse nur noch punktuell zu erwähnen sind. Hatte schon der letzte Religionskrieg mit dem auch formellen Eingriff Frankreichs unter Kardinal Richelieu gegen die katholischen Mächte 1635 seinen konfessionellen Charakter verloren, so wurde nach 1648 im Kampf Frankreichs um die Hegemonie die Konfession zum bloßen Mittel politischer Propaganda. Ein bezeichnender Fall ist der französisch-holländische Krieg (1672-78), in dem sich Papst Clemens X. über die Absichten Ludwigs XIV. täuschen ließ (Kap. 7); im Frieden von Nimwegen (1678/79), in dem Frankreich seine Hegemonie gegen Spanien und das Reich ausbaute, spielte der Legat Innozenz' XI. eine geringfügige Rolle, wie schon beim »Pyrenäenfrieden« (1659) zwischen Frankreich und Spanien der Heilige Stuhl ausgeschlossen war. Anderseits war eine Allianz zwischen dem Kaiser und den protestantischen Mächten Holland und England gegen Frankreich möglich, das 1688 in die Pfalz eingedrungen war, während Ludwig XIV. sich den Anschein gab, die katholische Kirche zu fördern, indem er Jakob II. aus dem Hause Stuart stützte und nach seiner Flucht den dann gescheiterten Aufstand der Iren (1690) unter Jakob in sein politisches Kalkül einbezog (Kap. 12). Im Frieden von Rijswijk (1697) war der Papst nicht offiziell vertreten; daß nach der »Rijswijker Klausel« katholische Orte, wenn sie unter protestantische Herrschaft gerieten, geduldet werden sollten, blieb bei den folgenden Veränderungen der Machtverhältnisse ein immer wieder auftretendes Problem, so beim Frieden von Utrecht (1713) und Rastatt (1714) im Spanischen Erbfolgekrieg, und von neuem bei der Expansion Preußens in den Schlesischen Kriegen und den Teilungen Polens (Kap. 23 a). (Fs)

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