Autor: Voegelin, Eric Buch: Apostasie Titel: Apostasie Stichwort: Struktur: innerweltliche Heilsgeschichte (Voltarie): 3 Konstruktionsebenen, Interpretationsregeln der historisch-politischen Konzeptionen Kurzinhalt: Vergöttlichung der Vernunft und des Verstands zur Vergöttlichung der animalischen Grundlage der Existenz hinabbewegen Textausschnitt: c. Die Struktur der innerweltlichen Geschichte
21b Die Einsicht in den Typus der von Voltaire geschaffenen säkularen Konstruktion erlaubt die Formulierung einiger Interpretationsregeln der historisch-politischen Konzeptionen, zu denen es in seiner Nachfolge kam. Historische Auffassungen wie die von Voltaire, Comte oder Marx dürfen nicht für bare Münze genommen werden. Ihr Anspruch, eine gültige Interpretation einer Universalgeschichte bzw. -im neunzehnten Jahrhundert - eines soziologischen "Gesetzes" zu offerieren, ist nicht haltbar. In unserer Analyse dieser Auffassungen werden wir zwischen verschiedenen Konstruktionsebenen zu unterscheiden haben. Sie enthalten, erstens, eine "These der Allgemeinheit", nämlich dass die Abfolge evolutionärer Phasen, die als "Heilsgeschichte" ausgewählt wurden, das allgemeine Muster der Menschheitsgeschichte bildet, in welches sich das gesamte empirische Material auf befriedigende Weise einpassen lässt. Während diese "These der Allgemeinheit" aus den oben genannten Gründen unvermeidlich falsch ist, behält sie doch ihre Bedeutung als ein Schlüssel für das spezielle "Modell", das "verallgemeinert" wurde, bei. Das spezielle "Modell" markiert die zweite Konstruktionsebene, in die es vorzudringen gilt. Comtes Dreiphasengesetz ist ebenso wenig ein Gesetz der Universalgeschichte wie die Marxsche wissenschaftliche Auffassung einer Evolution in Richtung Kommunismus oder Voltaires drei Phasen der Aufklärung. Die allgemeine These basiert auf einer besonderen, aber nichtsdestotrotz sinnerfülten Geschichtsstruktur, die durchaus korrekt beobachtet sein mag. So sah Voltaire den Kampf zwischen den geistigen und weltlichen Mächten zu Recht als entscheidend für das Mittelalter an, und Comtes Analyse des Mittelalters war für seine Zeit eine großartige Leistung. Beide Denker beobachteten durchaus korrekt, dass der Aufstieg des autonomen kritischen Intellekts eine Epoche der westlichen Welt markierte. Folglich kann die Modell-Konstruktion als empirische Analyse einer individuellen Phase in der Geschichte weit oben rangieren - ungeachtet der Tatsache, dass das Modell als säkulare "Heilsgeschichte" verwendet wird. Wir müssen schließlich, drittens, über das Modell hinaus die Sentiments ergründen, die seine imaginative Transformation in ein generelles Muster der Geschichte bewirken. Auf dieser Ebene gilt es, die Verlagerung des transzendenten Glaubens an den Geist Christi zum innerweltlichen Glauben Voltaires an den esprit humain zu beobachten. Wir müssen dann die Verlagerungen des innerweltlichen Glaubens von Voltaires esprit humain über Comtes Glauben an den organisierenden und technischen Verstand, bis zum Marxschen Glauben an den Proletarier als den wahren Menschen und das Proletariat als das Auserwählte Volk verfolgen; und wir müssen ferner zu den verschiedenen Glaubenshaltungen bezüglich der Auserwählten Nationen und einer Auserwählten Rasse vordringen. Von den verschiedenen Ebenen der historischen Konstruktion sind die oberen Ebenen, die das "Modell" und die "These der Allgemeinheit" enthalten, nicht viel mehr als eine ephemere dogmatische Oberfläche, unter der die grundlegenden Bewegungen der innerweltlichen religiösen Sentiments liegen, die sich von der Vergöttlichung der Vernunft und des Verstands zur Vergöttlichung der animalischen Grundlage der Existenz hinabbewegen. In einer etwas freien Anwendung von Schellings Begriff könnten wir diese grundlegende Bewegung der religiösen Sentiments als einen theogonen Prozess bezeichnen. (Fs) ____________________________
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