Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Natur als Grundlage der Moral Titel: Natur als Grundlage der Moral Stichwort: Natursetz (lex naturalis), Tugend, Klugheit Kurzinhalt: Die fundamentale Regel der praktischen Vernunft als "recta ratio agibilium" ist eine ihr vorausliegende und ihre normative Kraft konstituierende natürliche Regel, ... Textausschnitt: 403b Wir haben gesehen: Die oftmalige Komplexität vieler Situationen erschwert in vielen Fällen die Erkenntnis dessen, was zu tun ist. Die Regelung des konkreten Handelns durch das natürliche Gesetz der praktischen Vernunft verliert an Evidenz und Eindeutigkeit, je näher man sich bei der Ebene des konkreten "operabile" befindet. In vielen Fällen sind mehrere Handlungsweisen sittlich gerechtfertigt, oder es scheint zumindest so. Die simple Orientierung an universal formulierten Handlungsnormen versagt oft oder erweist sich als ungenügend, nicht weil diese Handlungsnormen ungenügend sind, sondern weil wir, aufgrund der materialen Kontingenz des Handelns in bestimmten Zusammenhängen (vor allem im Bereich der Tugend der Gerechtigkeit) oft Schwierigkeiten haben, auszumachen, welcher der objektive Gehalt der betreffenden Handlung ist, bzw., im Bereich der Gesetzgebung, welche Gesetze den objektiven sittlichen Ansprüchen Genüge zu tun vermögen. (Fs)
403c Es gehört gerade zur Klugheit (auch zur gesetzgeberischen Klugheit) und zu den mit ihr unlösbar verknüpften sittlichen Tugenden, konkrete Situationen in ihrer objektiven Bedeutung richtig einzuschätzen1, also das menschliche Handeln gemäß der Ordnung der Vernunft auf das Ziel, das Gute hinzuordnen. Der Akt der Klugheit ist jedoch fundamental und ursprünglich nicht durch "Normen" geregelt. Die Klugheit steht damit weder mit diesen noch mit dem "Gewissen" in Konflikt oder brauchte diese zu modifizieren. Die Klugheit hängt vielmehr ab vom intentionalen Akt der sittlichen Tugenden und damit zugleich von der universalen "ordinatio" der natürlichen Vernunft sowie deren Habitus der ersten Prinzipien, den die Tradition, aus welchen Gründen auch immer, "Synderesis" genannt hat. (Fs)
404a Die fundamentale Regel der praktischen Vernunft als "recta ratio agibilium" ist eine ihr vorausliegende und ihre normative Kraft konstituierende natürliche Regel, die dieser selben praktischen Vernunft auf der Ebene der "ratio naturalis" entspringt. Diese Regel ist das Naturgesetz, und nicht "sittliche Normen", die ja nur eine nachträgliche Formulierung der "ordinatio rationis" auf der Ebene der Reflexion darstellen. Es ist der heutigen Moraltheologie in den hier kritisierten Ausgestaltungen vorzuwerfen, daß es ihr nicht gelungen ist, eine Jahrhunderte alte Perspektive zu überwinden, die sittliche "Normen" und damit auch die reflexe Formulierung des Naturgesetzes fälschlicherweise als das grundlegende Phänomen zu betrachten pflegte. Die ganze Argumentation der in der vorliegenden Untersuchung kritisierten moraltheologischen Neuansätze verläuft noch auf der Ebene einer Normenethik, die den Ausgangspunkt des moralischen Diskurses im Phänomen des "Gebotes" und des "Gesetzes" als reflex-formulierte Handlungsnormen erblickt, um diesen Normen dann das Gewissen, die Freiheit, die Einmaligkeit der Situation, die Intention des Subjektes usw. entgegenzuhalten. (Fs) (notabene)
404b Diese abstrakte Ausgangsposition konstruiert damit unweigerlich eine von der Sache her gar nicht bestehende "Spannung" "zwischen den notwendig erforderlichen und allgemein formulierten Normen und dem konkreten Anspruch des einzelnen".1 Und das Geschäft des Moraltheologen beginnt dann darin zu bestehen, Argumente zu suchen, um diese Spannung erträglich zu machen.2 In gewissen Traditionen legalistischer Moraltheologie, die solchermaßen vorzugehen pflegte, wurde die "Spannung" zugunsten der Norm entschieden. Die Argumentationsfiguren, die entstanden, um Sonderfälle zu erklären, konnten so leicht als "Auswege" oder "Notlösungen" erscheinen. Die Plausibilität dieser Argumentationsfiguren begründete sich oft mehr intuitiv als diskursiv, jedenfalls aber erfüllten sie ihren praktischen Zweck, mit dem Nachteil allerdings, daß der "legalistisch" argumentierende Moraltheologe der Gefahr verfiel, sich als bloßen "Gesetzesgelehrten" zu betrachten. (Fs)
404c Daran scheint sich bis heute nicht viel geändert zu haben. Nur, daß man sich jetzt für die "Freiheit des einzelnen" entscheiden möchte. Der Moraltheologe ist weiter ein Gesetzesgelehrter, lehrt nun aber wie, wann und weshalb gewisse Normen nicht verpflichten und man auch anders handeln könne. Man scheint die Freiheit neu zu entdecken, und zwar als die Möglichkeit, sich im Raum "begründeter Ausnahmen" bewegen zu können. (Fs)
405a Dabei bleibt die Ordnung zwischen dem Grundlegenden und dem Gegründeten auf den Kopf gestellt. Die Freiheit des Menschen ist viel mehr, und zugleich aber sind auch die Ansprüche des Menschseins viel höher. Manchmal scheinen sie den Menschen zu überfordern. Das wäre in der Tat der Fall, wenn der Mensch jene Art von Autonomie besitzen würde, die ihn ganz auf sich selbst stellte. Der Mensch ist jedoch nicht nur Geschöpf Gottes, sondern, durch das Werk der Gnade, auch Kind Gottes. Der christliche Moraltheologe darf das nie vergessen und etwa behaupten, die "christliche Moral" hätte dem Menschen nichts spezifisch Neues zu sagen. Sie hat ihm nämlich, unter vielem anderem, zu sagen, daß er diesen Anforderungen seines Menschseins nicht ohne jene Gnade, d. h. göttliche Hilfe, gerecht werden kann, die uns durch und in Christus, sowie vermittelt durch seine Kirche, zuteil wird. Die Erlösung ist nicht Erlösung von den sittlichen Ansprüchen des Menschseins oder vom "moralischen Gesetz", sondern sie ist Erlösung vom menschlichen Unvermögen, diesen Ansprüchen voll und ganz zu entsprechen und das heißt auch: von der Unfähigkeit, der wirklichen menschlichen Würde gemäß zu leben. (Fs)
____________________________
|