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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Naturrecht, lex naturalis - Geschichte, Geschichtlichkeit

Kurzinhalt: Insofern ändert sich dann auch das Naturrecht, wobei eben dabei immer das historisch-kulturell "inkarnierte" Naturrecht gemeint ist

Textausschnitt: 401a Es geht also nicht um die Veränderung der Auffassung über das Naturrecht, sondern um die Veränderbarkeit des Naturrechtes selbst, d. h. um die Frage: Ist es möglich, daß eine bestimmte Forderung der Gerechtigkeit heute mit naturrechtlichem Anspruch gilt, morgen jedoch nicht mehr - oder umgekehrt? Bzw., daß sie in einem bestimmten kulturellen, zivilisatorischen Kontext gilt, in einem anderen jedoch nicht? (Fs) (notabene)
401b Wenn wir die vorhergehenden Ausführungen über die Kontingenz der Handlungsmaterie berücksichtigen, so wird einsichtig, daß und weshalb solches möglich ist. Nicht weil das Naturgesetz sich ändert, sondern weil die Konfiguration der Handlungsmaterie in dem Sinne kontingent ist, daß bestimmte konkrete Forderungen (bzw. Gesetze) zu einer Zeit naturrechtlich begründet werden können, in einer anderen Zeit jedoch nicht mehr; und dies deshalb, weil bestimmte gesetzliche Regelungen nur unter bestimmten Umständen notwendig sind, um den immer geltenden Präzepten des Naturgesetzes Folge zu leisten. (Fs) (notabene)

Kommentar (29.05.07): Das Naturgesetz als ordo rationis ist eine Invariable wie das "Gesetz" der Relation bei Lonergan.

401c So läßt sich verstehen, weshalb aufgrund des gesellschaftlichen Kontextes gewisse menschliche Rechte und Gesetze als naturrechtliche Forderungen auftreten können, die vorher (oder anderswo) nicht als solche gegolten hatten. Daß zum Beispiel heute der Staat eine naturrechtlich begründbare Gerechtigkeitspflicht besitzt, das Schulwesen zu ordnen, wird niemand bestreiten. Dennoch besaß der Staat diese Pflicht nicht immer: Denn sie ergibt sich aus Existenz und Struktur des modernen Bildungswesens. Ein klassisches Beispiel ist auch das Zinsverbot: Im Mittelalter hatte Kapital und Zins eine völlig andere wirtschaftliche Bedeutung. Kredit auf Zins zu geben war, aufgrund dieser Umstände, eine sittlich völlig andere Handlung, als sie dies im heutigen Wirtschaftsleben darstellt. (Fs) (notabene)

401d Das zeigt wohl deutlich, daß eine Naturrechtsauffassung verfehlt wäre, die ein überzeitliches und unabhängig von aller kultureller Bedingtheit feststehendes "System" detaillierter, "immer" und "überall" gültiger naturrechtlicher Gerechtigkeitsforderungen aufstellte: Etwa die eine dem Naturrecht entsprechende Staatsform, Wirtschaftsordnung, Steuergesetzgebung usw. Ein Beispiel für die Verbindung der überzeitlich gleichbleibenden sittlichen Grundforderungen des Naturrechtes mit ihrer jeweiligen Verwirklichung in einer bestimmten Zeit bildet gerade die kirchliche Soziallehre, deren Entwicklung man wohl nur auf diesem Hintergrund adäquat verstehen und beurteilen kann. Gewiß: es gibt Fortschritte in der Einsicht in die Struktur und die Erfordernisse der politischen, wirtschaftlichen, sozialen Gerechtigkeit. Aber es gibt auch Umstände, die sich ändern. So lehrte eben die Kirche seit Leo XIII., daß der Staat die Aufgabe besitze, zum Schütze der Arbeiter in das Wirtschaftsleben einzugreifen. Aber diese Forderung ist erst aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts entstanden, in deren Kontext die Enzyklika Rerum Novarum unveränderliche Prinzipien des Naturrechtes zur Geltung gebracht hat. (Fs)

401e Thomas reflektiert diese Zusammenhänge an einigen wenigen Stellen; so unterscheidet er in De Malo den formellen Aspekt der Gerechtigkeit positiver menschlicher Gesetze von einem materiellen Aspekt. Die formelle Gerechtigkeit dieser Gesetze gründet in ihrer Übereinstimmung mit den "Prinzipien des Rechtes, die sich in der natürlichen Vernunft" befinden; diese Prinzipien sind unveränderlich (und enthalten, gemäß der Extension der "ratio naturalis", sowohl primäre wie sekundäre Präzepte). Auf der anderen Seite ist die materielle Richtigkeit zu betrachten: "Und in dieser Hinsicht ist nicht dasselbe überall und bei allen gerecht und gut, vielmehr muß dies durch Gesetze festgesetzt werden. Dies ergibt sich aus der Veränderlichkeit der menschlichen Natur und aus verschiedenen Bedingtheiten der Menschen und der Dinge gemäß örtlicher und zeitlicher Verschieden-heit".1 (Fs)

402a Thomas begründet hier also gerade die Notwendigkeit menschlicher Gesetze aufgrund der Kontingenz der Handlungsmaterie, die auch eine örtliche (kulturelle, zivilisatorische) und geschichtliche Kontingenz sein kann; sowie auch aufgrund der "Veränderlichkeit der menschlichen Natur", womit ja, wie bereits gezeigt, nur gemeint ist, daß der Mensch von Natur aus in seinem Wollen veränderlich ist. Eine Drogengesetzgebung wird ja kaum nötig sein, wo nicht in gemeinwohlgefährdendem Ausmaße Drogen konsumiert und mit ihnen gehandelt wird; das kann aber, aufgrund der Gewohnheiten der Menschen - der "mutabilitas" der "rectitudo" ihres Wollens - sich ändern; und dann braucht es eben als unbedingte Forderung der Gemeinwohlgerechtigkeit auch entsprechende Gesetze. (Fs)

402b In der Summa Theologiae stellt Thomas direkt die Frage, ob das Naturgesetz wandelbar sei.2 Dies könne in zweierlei Weise verstanden werden: Erstens als Veränderung durch Hinzufügung; und dies sei ohne weiteres möglich, "denn vieles ist dem Naturgesetz hinzugefügt, was zum menschlichen Leben nützlich ist, sei es durch göttliches, sei es durch menschliches Gesetz." Der zweite Fall (Veränderung durch Wegnahme, per modum subtractionis) reduziert sich auf die bereits besprochene Struktur der Geltung der Präzepte des Naturgesetzes "ut in pluribus": Thomas verweist dabei selbst auf seine früheren Ausführungen. (Fs)

402c Interessant ist dabei jedoch vor allem, daß Thomas die Hinzufügung durch positive Gesetze, die ein "zum menschlichen Leben Nützliches" statuieren, als eine Veränderung des Naturgesetzes selbst bezeichnet. Wie ist das gemeint? Gemeint ist damit, daß das Naturgesetz (oder das Naturrecht) in jedem geschichtlichen und kulturellen Kontext immer in diesen Kontext gleichsam "inkarniert" auftritt. Ein oft angeführtes Beispiel: Es entspricht dem Naturrecht, daß ein Übeltäter bestraft wird. Kein menschliches Gesetzbuch beschränkt sich jedoch auf diese Forderung, sondern es setzt für bestimmte Straftaten bestimmte Strafen fest. Dieses positive menschliche Gesetz ist eine Ableitung per modum determinationis aus dem Naturgesetz, und in ihr ist das Präzept "Übeltäter sind zu bestrafen" (selbst ein sekundäres Gebot des Naturgesetzes) "inkarniert": Seine Geltungskraft lebt aufgrund des Naturgesetzes und insofern gehört dieses konkrete positive Gesetz auch zu ihm (bzw. ist es eine "derivatio per modum determinationis aus ihm); die Konkretion dieses Gesetzes selbst unterliegt jedoch historischer und kultureller Bedingtheit. Ein Staat, der diese Konkretisierung hingegen nicht vornehmen würde, verstieße gegen das Naturgesetz. Das Gesetz, das bestimmte Straftaten mit bestimmten Strafen belegt, entspricht also dem Naturgesetz und ist gleichzeitig, in seiner konkreten Ausgestaltung wandelbar. Genau in diesem Sinne kann das Naturgesetz selbst veränderbar genannt werden. (Fs) (notabene)

403a Es sind nun aber auch solche Konkretisierungen denkbar, die in einem gegebenen historisch-zivilisatorischen Kontext die einzig mögliche, also eine notwendige, Weise darstellen, um einem bestimmten Gebot des Naturgesetzes Geltung zu verschaffen. In diesem Falle kann man im strengen Sinne sagen: Dieses Gesetz ist (hic et nunc) ein naturrechtliches Gebot, ohne dabei außer Acht zu lassen, daß sich die Umstände ändern können und damit auch die positiv-gesetzlichen Bestimmungen. Insofern ändert sich dann auch das Naturrecht, wobei eben dabei immer das historisch-kulturell "inkarnierte" Naturrecht gemeint ist. Der Fehler weiter Strömungen der Naturrechtslehre - vor allem unter dem Einfluß des neuzeitlichen Rationalismus - bestand ja gerade darin, dieses "inkarnierte" Naturrecht nicht von den immer geltenden Prinzipien zu unterscheiden. (Fs)

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