Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Natur als Grundlage der Moral Titel: Natur als Grundlage der Moral Stichwort: Epikie; mutatio materiae Kurzinhalt: ... Mißverständnis bezüglich des Begriffes des Naturgesetzes. Es wird fälschlicherweise gemäß dem Muster eines menschlich-positiven Gesetzes behandelt Textausschnitt: 390a Man muß also sorgsam unterscheiden zwischen den Auswirkungen einer "mutatio materiae" bezüglich dem Naturgesetz einerseits und dem positiven Gesetz andererseits. Im ersten Fall bewirkt diese "mutatio", daß sich der objektive Sinn der Handlung verändert und daß damit die entsprechende Handlungsweise sich der Regelung durch das entsprechende Gebot des Naturgesetzes entzieht. Im zweiten Fall jedoch, der derselben "mutatio materiae" entspringt, bewirkt diese gerade nicht, daß sich die Handlungsweise dem entsprechenden Gesetz, was seinen Wortlaut betrifft, entzieht. Sie entzieht sich indessen seiner Intention, die im Wortlaut nur ungenügend, nicht für alle Fälle zutreffend, zum Ausdruck kommt. Deshalb muß man in solchen Fällen dem Wortlaut des Gesetzes zuwider handeln. (Fs)
390b Die Anwendung des Modelles der Epikie im Fall der mutatio materiae auf das Naturgesetz, zu dem heute viele Moraltheologen neigen, entspringt deshalb einem fundamentalen Mißverständnis bezüglich des Begriffes des Naturgesetzes. Es wird fälschlicherweise gemäß dem Muster eines menschlich-positiven Gesetzes behandelt. Man achtet auf den Wortlaut von Geboten und Normen und stellt fest, daß dieser nicht alle Fälle abdeckt. - Von da aus kommt man zum Schluß, daß das Naturgesetz nicht immer gilt, daß es also Ausnahmen zuläßt. Aber das Naturgesetz besteht nicht ursprünglich aus (sprachlich) formulierten Geboten und Normen, sondern ist eine "ordinatio rationis", ein ordinativer Akt der praktischen Vernunft; diese ordinatio deckt alle möglichen "Fälle" ab und ihm gegenüber gibt es keine Epikie. (Fs)
390c Auch hier könnte es wiederum scheinen, es handle sich lediglich um einen Streit um Worte. Dem ist aber nicht so. Wenn ich nämlich behaupte, das Naturgesetz, das wesentlich eine "ordinatio rationis" ist, unterliege der Epikie, dann behaupte ich eben, es gebe Fälle, in denen die "ordinatio" im Bereiche der Gerechtigkeit "deposita sunt reddenda" einer bestimmten Situation inadäquat sei und eine Forderung der Gerechtigkeit in bestimmten Fällen einem "höheren Gut" zu weichen habe. Daß also, um das obige Beispiel wieder aufzugreifen, die Intention des Gebotes gewahrt bleibe, wenn ich das, was "an sich" oder "abstrakt" einer Forderung der Gerechtigkeit entspricht, zugunsten eines höheren Gutes unterlasse, d. h. in diesem Falle das geliehene Kapital nicht zurückzahle. Denn es sei ja gerechter - und Gerechtigkeit intendiere ja dieses Gebot - nur zehn Arbeiter anstellte von hundert auf die Straße zu stellen und dazu noch die Existenz einer kinderreichen Familie aufs Spiel zu setzen. Das Gebot des Naturgesetzes habe diesen Fall nicht voraussehen können. (Fs)
390d Das Prinzip "deposita sunt reddenda" ist jedoch nicht nur eine idealtypische Annäherung an die Gerechtigkeit; es drückt vielmehr handlungsspezifisch die "ratio iustitiae" aus und kann deshalb nicht aufgrund von Umständen oder Folgen außer Kraft gesetzt werden. (Fs)
390e Die beiden, im Grunde identischen, Behauptungen, das Naturgesetz lasse aufgrund der Umstände oder Folgen einer Handlung Ausnahmen zu und diejenige, auch bezüglich des Naturgesetzes sei Epikie denkbar, es sei also in seiner Formulierung von absoluten Verboten bezüglich des Einzelfalles defizient, will dann natürlich besagen, daß dies prinzipiell für alle möglichen Handlungsweisen gilt. Nun stellt sich, abschließend, ganz einfach die Frage: Ist eine "mutatio materiae" denn wirklich prinzipiell in allen Handlungsbereichen denkbar, oder nur in einigen? (Fs)
391a Diese Frage ist deshalb entscheidend, weil ja die angeführte Argumentation für ein Naturgesetz mit Ausnahmen schließlich begründen will, weshalb auch Abtreibung, aktive Euthanasie, künstliche Empfängnisverhütung ebenfalls nur "ut in pluribus" unmoralisch sei; sie will also begründen, daß es prinzipiell keine Handlungen gibt, die man als "intrinsece mala" bezeichnen könnte und die immer und unter allen Umständen unmoralisch sind. (Fs)
391b Die Frage ist relativ einfach zu beantworten. Um die Argumentation des hl. Thomas z. B. auf die Empfängnisverhütung anzuwenden, müßte es Fälle oder Situationen geben, in denen der objektive Sinngehalt des ehelichen Aktes sich änderte. Da sich jedoch der Sinngehalt dieses Aktes im Kontext des menschlichen Suppositums (der menschlichen Natur) und der Sinn- und Zielhaftigkeit des menschlichen Lebens überhaupt konstituiert, genau deshalb würde eine solche "mutatio materiae" eine Veränderung der menschlichen Natur voraussetzen. Und zwar nicht eine "mutabilitas naturae", von der Thomas spricht, also eine Schwankung oder "depravatio" in der "vis electiva" des menschlichen Willens; sondern eine Veränderung im ontologischen Strukturgefüge der menschlichen Person. (Fs) (notabene)
391c Die menschliche Natur oder Person ist kein kontingentes Gefüge, das sich je nach Umständen neu definiert. Eine "mutatio materiae" ist lediglich bei solchen Handlungen denkbar, deren objektiver Sinn sich im Kontext eines kontigenten Handlungsgefüges konstituiert. Wie eben die Beziehung des Entleihers eines Jagdgewehres zu seinem Eigentümer; oder allgemein: Im Bereich des wesentlich auf das Gemeinwohl bezogenen "usus" äußerer Güter, den die Tugend der Gerechtigkeit ordnet. (Fs)
391d Die unterschiedslose Anwendung des Prinzips "non est eadem rectitudo apud omnes" und der sich daraus ergebenden Tatsache, daß einige "principia propria" nur "ut in pluribus" einschlägig sind, auf alle Bereiche des menschlichen Handelns, scheint also ungerechtfertigt, und sich dabei auf Thomas zu berufen, entspringt zumindest einer höchst oberflächlichen Exegese der entsprechenden Texte. Immerhin hat etwa J. Th. C. Arntz eine solche Interpretation mit einigem Geschick vorgetragen1, und es lohnt sich, ein wenig näher auf seine Begründung einzugehen. (Fs) ____________________________
|