Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Natur als Grundlage der Moral Titel: Natur als Grundlage der Moral Stichwort: Zuordnung: Handlung - sittlicher Wert; das sittliche Gute: Aristoteles - Platon (teleologische Ethik); Trennung: Handlungsanalyse und Wertanalyse Kurzinhalt: Aristoteles ...: Die Metaphysik des Guten sei für die Ethik irrelevant; Durch die Trennung, das Auseinanderreißen von Handlungsanalyse und Wertanalyse, fällt der Begriff der menschlichen Handlung auf die Ebene ... Textausschnitt: 300a Damit sind wir am entscheidenden Punkt unserer Analyse angelangt, nämlich bei der alten Frage philosophischer Ethik: Was ist Gerechtigkeit, Liebe, Wohlwollen (Freundschaft), Starkmut, Mäßigkeit, Keuschheit usw., also: was ist das sittlich Gute? Die Teleologen behaupten, es handle sich dabei um Wertmaßstäbe, anhand derer die Güterabwägung, also die Beurteilung von Handlungsfolgen vorgenommen werden müße. Damit vertreten sie eine platonische Position: Denn diese besagt, daß jedes Handeln in sich betrachtet bedeutungslos ist; nur dadurch, daß es ein Gut intendiere, erhalte es seinen Sinngehalt. Die Ethik handle also vom Guten, sei also wesentlich eine "Wertmetaphysik", konkret: eine Metaphysik des Guten. (Fs) (notabene)
300b Aristoteles hat diese Bestimmung der Ethik verworfen: Die Metaphysik des Guten sei für die Ethik irrelevant. Nicht weil die Metaphysik des Guten irrelevant sei. Sondern weil die Ethik nicht das Gute an sich, sondern die "Herstellung" oder "Bewirkung" des Guten durch das Handeln (das, im aristotelischen Sinne, "Nützliche") untersuche. Die Ethik handelt nicht von der "Gerechtigkeit", sondern vom "gerechten Menschen", bzw. vom "gerechten Handeln". Ja, mit Gerechtigkeit ist überhaupt eine Eigenschaft von menschlichen Handlungen gemeint, und nicht ein "Gut" oder "Wert", der vor allem Handeln und unabhängig von ihm bestehen würde. Die Ethik hat es vielmehr mit dem "praktisch Guten" zu tun, d. h. jenem Guten, das der Mensch in seinem Handeln und - in diesem Sinne - auch durch das Handeln erwirkt. Das gesuchte praktische (sittliche) Gute ist nicht eine Idee, aufgrund derer man beurteilen könnte, welche Handlungen nun "gut" seien, "wie ein Muster, mit dessen Hilfe wir auch das für uns Gute besser erkennen und, wenn wir es erkannt, erlangen könnten". Dies werde, wie Aristoteles mit einem Vergleich ausführt, bereits durch das herstellende Schaffen widerlegt: Denn wenn auch jeder Künstler oder Handwerker ein Gut zu erzielen beabsichtige, so würde es ihm nichts nützen, die "Idee" des Guten zu schauen. "Auch wäre es sonderbar, was es einem Weber oder Zimmermann für sein Gewerbe nützten sollte, das Gute an sich zu kennen, oder wie einer ein besserer Arzt oder Stratege werden sollte, wenn er die Idee des Guten geschaut hat. Auch der Arzt faßt offenbar nicht die Gesundheit an sich in's Auge, sondern die des Menschen, oder vielmehr die dieses konkreten Menschen. Denn er heilt immer nur den und den."1 (Fs) (notabene)
301a Aristoteles meint damit: Das praktisch Gute ist eine Eigenschaft von Handlungen; sittliche Werte ergeben sich aus der Analyse der dem Menschen gemäßen Handlungsweise, bzw.: aus der, in einer Anthropologie gegründeten, Analyse jener Handlungsweisen, die der Tugend entsprechen und sie hervorbringen. Denn die sittliche Tugend ist das im Menschen als "hexis prohairetike" ("habitus electivus", Habitus der Handlungswahl) erwirkte sittlich Gute. (Fs)
301b Jede in der aristotelischen Tradition stehende Ethik betrachtet sittliche Werte als eine Eigenschaft von menschlichen Handlungen. Werte sind nicht intuierte Ideen oder gesellschaftlich, durch "Sozialisation" vermittelte Handlungsmaßstäbe. Sie können als ideale Gebilde aufgrund einer Abstraktion vergegenständlicht werden; sie können auch sozial vermittelt und angeeignet werden. Aber so erklärt sich nicht ihr Ursprung. Dieser findet sich vielmehr im menschlichen Handeln als menschlichem. Werterkenntnis ist demnach auch nur im Rahmen einer philosophischen Anthropologie möglich. (Fs) (notabene)
301c Die sogenannte "teleologische Ethik" gehört zum platonischen Typ der Ethik. Somit zeigt sich nun in aller Klarheit, worin der eigentliche Unterschied zwischen der sogenannten traditionellen "streng-deontologischen" und der sogenannten "teleologischen Ethik" besteht: Darin, daß die sogenannte "deontologische Ethik" sittliche Werte als Eigenschaften von Handlungen betrachtet, und demnach, als Tugendethik, eine Analyse von Handlungsweisen vornehmen kann, die zugleich eine Analyse sittlicher Werte ist. Sie kann damit auch konkreten Handlungsweisen sittliche Wertprädikate zusprechen; und da man nie ungerecht handeln darf, was alle zugeben, aber bestimmte Handlungsweisen sich als "ungerecht" beschreiben lassen, so gibt es eben gewisse Handlungen, die immer sittlich schlecht sind. Unbeschadet der Tatsache, daß die Qualifizierung solcher Handlungen teleologisch vorgenommen wird, aber in einer Teleologie, die eine, anthropologisch begründete, fundamentale Verknüpfung von Handlungsanalyse und Wertanalyse behauptet, d. h.: letztere in der ersteren begründet. Diese Verknüpfung vollzieht sich in der Lehre von der Vernunft als Telos und Maßstab menschlichen Handelns, wie sie bereits dargestellt wurde. (Fs) (notabene)
301d Die sogenannte teleologische Ethik ist weder "teleologischer" noch weniger "deontologisch" als die sogenannte "deontologische Ethik". Ja, die sogenannte "teleologische Ethik" ist in einem gewissen Sinne, auf der Ebene der Begründung sittlicher Werte, sogar ausschließlich deontologisch; teleologisch argumentiert sie nur auf der Ebene der Handlungsanalyse ("Richtigkeit von Handlungen"), die aber keine Analyse menschlicher Sittlichkeit ist, sondern eine Analyse der Folgen menschlichen Handelns auf der Ebene vor-sittlicher Güter. Durch die Trennung, das Auseinanderreißen von Handlungsanalyse und Wertanalyse, fällt der Begriff der menschlichen Handlung auf die Ebene einer vor-sittlichen, physizistischen Bestimmung zurück (Bereich der vor-sittlichen Güter); die Sittlichkeit von Handlungen muß im Nachhinein rekonstruiert werden, und zwar durch Wertmaßstäbe, die der Güterabwägung angelegt werden. Diese Wertmaßstäbe können dann nur noch ausschließlich deontologisch begründet werden. (Fs) (notabene) ____________________________
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