Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Die Perspektive der Moral Titel: Die Perspektive der Moral Stichwort: Objekt der Vernunft: das Intelligible (Wahre); Vernunft -> reflexionsfähiges Vermögen (Reflexivität); Beispiel: Auge; Freiheit Kurzinhalt: Reflexivität indiziert Unabhängigkeit von Körperorganen, und das heißt: Geistigkeit ... Die Vernunft als Vernunft trifft das ihr eigene Gute, und dieses Gute ist das Kriterium für das Gut-sein menschlicher Handlungen Textausschnitt: 148a Das adäquate Objekt der Vernunft ist das Intelligible. Pathologische Störungen der Vernunft als Vernunft sind nicht möglich, da der Akt der Vernunft als Akt der Vernunft nicht von Körperorganen abhängig ist. Der Beweis dieses Satzes gehört nicht in die Ethik. Sein Fundament sei dennoch genannt: Vernunft und auch Wille sind reflexionsfähige Vermögen. Dass ein Vermögen über sich selbst reflektieren kann, heißt, dass es fähig ist, sich seine eigenen Akte wiederum gegenständlich zu machen. Das Auge kann sich nicht sehen (außer in nicht-reflexiver Weise, d.h. in einem Spiegel); ein sinnliches Begehren kann sich nicht begehrend zu sich selbst verhalten oder seinen Akt selbst wiederum nicht-begehren (auch deshalb besitzen Tiere keine Freiheit). Der Intellekt bzw. die Vernunft kann seine Akte selbst erkennen und Urteile über seine Urteile fällen, der Wille kann ein Wollen wiederum zum Gegenstand des Wollens machen und es nicht wollen. Reflexivität indiziert Unabhängigkeit von Körperorganen, und das heißt: Geistigkeit1. Die Vernunft kann nicht "krank" sein oder fehlgehen, wie die Sinne; sie kann nur "gehindert", "gestört" usw. werden, und dies, weil menschliche Vernunft die Vernunft eines Sinnenwesens ist; weil strenggenommen nicht die Vernunft erkennt, sondern der Mensch als leib-geistige Einheit. (Fs) (notabene)
148b Das heißt nun: Die Vernunft (oder der Intellekt) ist - wie jedes Vermögen - naturhaft darauf hingeordnet, das ihr adäquate Objekt zu erkennen. "Der Intellekt" - erklärt Aristoteles -"ist immer richtig, nur das Streben und die (sinnliche) Vorstellung können auch nicht richtig sein"1 - nicht "richtig" bezüglich der Anforderungen der Vernunft, und deshalb müssen sie gemäß dem von der Vernunft erkannten Richtigen geordnet werden. (Fs)
148c Was wir das "wahrhaft Gute" nennen ist nun eben nichts anderes als gerade das, was natürliches Objekt der Vernunft ist. Das heißt: Wahre Erkenntnis, auch im Bereich des Praktischen, nennen wir jene Erkenntnis, die von der Vernunft geleistet wird. Wir brauchen nicht noch darüber hinaus zu fragen: wie können wir garantieren, dass die Erkenntnis der Vernunft als Vernunft "wahr" ist? Die Frage ist deshalb überflüssig, weil gilt: Sofern die Vernunft wirklich den ihr eigenen Akt ungehindert vollziehen kann, so ist dieser unter den Bedingungen ihrer eigenen Natur nach vollzogene Akt "Erkenntnis des Erkennbaren" (Intelligiblen), - so wie der entsprechende Akt des Sehsinnes "Sehen des Sichtbaren" und der des Tastsinnes "Fühlen des Tastbaren" ist. Und das Treffen des für den Intellekt Erkennbaren nennen wir ein wahre Erkenntnis. Anders könnten wir ja gar nicht sinnvoll von einem Unterschied zwischen wahrer und falscher Erkenntnis sprechen. (Fs)
148e Nun ist jedoch entscheidend: Wenn wir sagen: Die Vernunft trifft unfehlbar das Wahre, bzw. wahrhaft gut ist, was die Vernunft als gut beurteilt, so ist zu berücksichtigen, dass dies eine Aussage über die Vernunft des Menschen ist (d.h. über das Vermögen als solches), nicht aber eine Aussage über den Menschen, insofern er Vernunft-Urteile vollzieht. Der Mensch ist ja nicht nur Vernunft. Und Akte werden nicht von einzelnen Vermögen vollzogen, sondern immer vom ganzen Menschen in seiner leib-seelischen Komplexität vermittels seiner Vermögen2. Vernunfturteile eines Menschen koexistieren in Interaktion und auch in einem Bedingungeverhältnis mit Akten sinnlicher Perzeption und sinnlichen Strebungen. Wenn ein Mensch vermittels seiner Vernunft urteilt "p ist gut", so ist das noch keine Garantie dafür, dass dieses Urteil vernünftig und eben "wahr" ist. Es ist vernünftig, d.h. es trifft das wahrhaft Gute, sofern in diesem Urteil auch wirklich die Ansprüche der Vernunft, und nicht andere, damit konkurrierende Ansprüche zur Geltung kommen. (Fs) (notabene)
149a Das könnte nun "rationalistisch" oder "stoisch" klingen, braucht aber nicht so verstanden zu werden. Es ist jedoch unumgänglich schrittweise vorzugehen. Erst nach und nach werden sich die Dinge klären. (Fs)
149b Die eben angesprochene "Unfehlbarkeit" der Vernunft bzw. des Intellektes bedeutet demnach nicht, dass der Mensch nicht irren kann. Gesagt ist nur: Der Irrtum erfolgt nicht auf Grund eines Defektes des intellektiven Vermögens, sondern aufgrund anderer Einflüsse. Der Intellekt abstrahiert intelligible Inhalte aus der Sinnesperzeption3. Hier spielt Veranlagung, physiologische Disposition, Übung u.a.m. eine große Rolle. Zudem, und das gilt besonders für den praktischen Intellekt, beeinflussen die affektiven Dispositionen das Urteil der Vernunft. Darüber wird noch zu sprechen sein. Angemerkt werden soll hier nur, dass aus diesen Gründen auch der Intellekt einer habituellen Ausrichtung auf den ihm eigenen Akt bedarf. Das geschieht durch die sogenannten "dianoetisehen" oder "intellektuellen" Tugenden (Verstandestugenden), von denen noch die Rede sein wird. (Fs; Fußnote)
149c Wir können festhalten: Die Vernunft besitzt im "Wahren" oder "Intelligiblen" das ihr adäquate Objekt, auf das sie naturhaft hingeordnet ist, von dem sie aber auch abgelenkt werden kann. Die Vernunft als Vernunft trifft das ihr eigene Gute, und dieses Gute ist das Kriterium für das Gut-sein menschlicher Handlungen. Deshalb ist es geradezu selbstverständlich, dass die Vernunft Maßstab für gut und schlecht in den menschlichen Handlungen ist. Ein anderer Maßstab ist, aus anthropologischen Gründen, gar nicht denkbar. Zweitens können wir sagen: Die Vernunft beurteilt alles andere, d.h. was nicht ursprünglich der Vernunft entspringt, in bezug auf sich selbst, gleichsam "in ihrem eigenen Interesse", ordnet es der ihr eigenen Erkenntnisweise ein und unter. Dies Interesse der Vernunft ist ein doppeltes: sich selbst als Vernunft zu bewahren, und alles andere gemäß dem der Vernunft gegenständlichen Guten zu ordnen. Deshalb sei - meint Thomas - für die nichtvernünftigen Strebungen gerade jene Verfassung "natürlicherweise richtig", durch die "der Akt der Vernunft und das Gut der Vernunft in keiner Weise gestört, sondern vielmehr unterstützt" wird. Im gegenteiligen Fall liegt vor, was "von Natur aus eine Verfehlung ist": So z.B. Beispiel Akte der Unmäßigkeit, "wodurch die Vernunft in ihrem Akt gehindert wird" und allgemein "sich den Leidenschaften unterwerfen, die das Urteil der Vernunft nicht in seiner Freiheit belassen: all dies ist ist natürlicherweise schlecht"1. (Fs)
150a Diese Forderung nach "Freiheit der Vernunft" beruht auf dem Prinzip: Die Vernunft ist der Garant dafür, das für den Menschen als Menschen Gute zu treffen. Eine "verdorbene" Vernunft ist nicht eine "falsch gebrauchte" Vernunft. Die Vernunft selbst kann nicht im eigentlichen Sinne missbraucht werden, aber sie kann ins Schlepptau nicht-vernünftiger Strebungen geraten, - zu denen, wie wir sehen werden, auch der Wille gehören kann. "Falsche" oder "verdorbene" Vernunft ist gar keine Vernunft: "Ratio corrupta non est ratio"2. (Fs)
150b Mehr als ein "Organ", das zu diesem oder zu jenem gebraucht werden kann, ist der Akt der Vernunft und des Intellektes insgesamt mit der Metapher des Lichtes beschreibbar. Das Licht kann nicht zum Verdunkeln gebraucht werden. Sofern es Licht ist, leuchtet es, erhellt es, macht es sichtbar, lässt es das Verborgene zum Vorschein kommen. Das Licht kann schwächer oder intensiver sein, seine Strahlen können auf Hindernisse stoßen, verdunkelt, gefiltert oder abgelenkt werden. Das intellektive Vermögen ist mit der Lichtquelle vergleichbar, sein Akt mit dem Lichtstrahl. Alles, was ihren Akt verfälscht, ist nicht aus ihr, sondern Hindernis für den ihr eigenen Akt. Intellektivität ist die dem Menschen eigene und spezifische Öffnung auf Wirklichkeit hin, auf das was ist in seiner ganzen für ihn relevanten Sinnfülle. Ein "Leben gemäß der Vernunft" oder "vernunftgemäßes Leben" heißt: In der Wahrheit leben, in dem und gemäß dem, was für den Menschen im eigentlichsten und tiefsten Sinne - eben vernünftigerweise - gilt und ihm entspricht. Und wiederum: Es gilt nicht zu fragen, wie wir wissen können, was denn nun vernünftig ist. Zuerst müssen wir festhalten: "Gut" für den Menschen ist, was der Vernunft als "gut" gegenständlich und in diesem Sinn "vernünftig" ist. Erst dann können wir fragen: Unter welchen Bedingungen sind wir denn vernünftig und leben auch tatsächlich gemäß der Vernunft? Unter welchen Bedingungen streben wir vernünftig nach dem Guten und erstreben als Letztes, was allein vernünftigerweise als Letztes erstrebt werden kann? Das ist das Thema jener Tradition von Ethik, wie sie durch Sokrates, Platon und Aristoteles, aber auch durch die epikureische und stoische Schule inauguriert wurde und wie sie spätestens bei Kant eine tiefgreifende Umgestaltung erfährt und in gewissem Sinne auch an ihr Ende gekommen ist, weil dort nicht mehr die Frage nach den Bedingungen von Vernünftigkeit, sondern - subjektivitätsphilosophisch - jene nach den Bedingungen von Freiheit als Autonomie des Willens ins Zentrum der Moral gerückt wird. Allerdings verbindet beide Traditionen, dass sie Freiheit nur unter der Bedingung von Vernünftigkeit zu denken vermögen3. (Fs) (notabene)
151a Die Frage nach den Bedingungen von Vernünftigkeit ist, mindestens zum Teil, identisch mit der folgenden: Was vermag die Vernunft zu "stören", sie von dem ihr in eigentümlicher Weise gegenständlichen Guten abzulenken und damit "Unvernünftigkeit" zu provozieren? Zweierlei ist hier zu nennen: Die Leidenschaften und der Wille. Und in einem anderen Sinne auch Mängel der Vorstellungskraft (Phantasie) und anderer für die Organisation der sinnlichen Perzeption verantwortlicher innerer Sinne, und schließlich falsche Meinungen (irrige Vorurteile) bzw. Unwissenheit. (Fs) (notabene)
151b Zugleich muss jedoch betont werden: Leidenschaften und Wille sind nicht nur jene menschlichen Gegebenheiten, die Vernunft "behindern" können. Sie sind auch jene Strebungen, durch die allein Vernunft praktisch und menschliches Handeln auch wirklich gutes Handeln zu werden vermag. Es geht hier, und dies sei bereits betont, nicht um eine Vernunftmoral im Sinne einer Moral der Leidenschaftslosigkeit. Viel eher besteht das sittliche Ideal einer Tugendethik darin, das Gute, d.h. das Vernunftgemäße leidenschaftlich zu tun, oder: mit Leidenschaft vernünftig zu handeln, bzw. mit Vernunft den sinnlichen Strebungen und der Dynamik des Willens zu folgen. Was aber sind "Leidenschaften" und wie ist das Verhältnis zwischen Vernunft und Wille zu verstehen?
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