Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Natur als Grundlage der Moral Titel: Natur als Grundlage der Moral Stichwort: Utilitarismus, teleologische Ethik - Aristoteles: Kriterium -> Bewertung der Folgen (ein vorsittliches Gut als Kriterium des Kriteriums?); naturalistischer Fehlschluss Kurzinhalt: Eine "teleologische" Ethik ... muß das "Handlungsobjekt" deshalb notwendigerweise auf einer nur naturalen, physizistischen Ebene definieren; "Indifferenz" menschlicher Handlungen ... Textausschnitt: 282b Die sogenannte "deontologische" Normenbegründung existiert folglich zumindest dort, wo man sie vermutet, überhaupt nicht; jenen ethischen Theorien, die als "deontologisch" qualifiziert werden, liegt vielmehr eine differenziertere, weil anthropologisch fundierte, Teleologie zugrunde, während die sogenannte "teleologische Ethik" mit einem anthropologisch undifferenzierten Begriff der "Folge" arbeitet.1 Oder noch genauer gesagt: Die sogenannt "deontologischen" Theorien besitzen selbst ein Kriterium für die sittliche Qualifizierung oder Einstufung von "Folgen", während teleologische Theorien, in der Tradition des Utilitarismus, jede Folge ausschließlich im Kontext aller möglichen Folgen zu beurteilen vermögen. Für den sogenannten Deontologen gibt es Folgen, die eine Handhing unabhängig von anderen Folgen sittlich qualifizieren; während für den "teleologischen" Ethiker prinzipiell jede Folge eine "vorsittliche" Größe ist. Der sogenannte Deontologe bringt in den Begriff der Folge das Kriterium der "moralischen Differenz" ein, während der sogenannte Teleologe physizistisch argumentiert.2 (Fs) (notabene)
283a Gerade an der Enzyklika Humanae Vitae, immer wieder fälschlicherweise als Paradebeispiel einer deontologischen Argumentation zitiert, kann dies nachgewiesen werden: Ihre Argumentation ist ausgesprochen teleologisch, aber es handelt sich um eine Teleologie, die einen Rückbezug auf die Anthropologie der ehelichen Liebe besitzt, näherhin die anthropologische Verknüpfung von "liebender Vereinigung" und "Fortpflanzung". Wie bereits ausgeführt (vgl. oben Teil I, 2.8), besteht das Hauptargument von HV darin, daß die Kontrazeption deshalb schlecht ist, weil sie zur Folge hat, daß diese Verknüpfung und damit der ganze Sinngehalt der ehelichen Liebe zerstört wird.3 Kann gegenüber der grundlegenden Zerstörung des Sinnes ehelicher Liebe eine andere Folge ins Gewicht fallen? Erhalten sie nicht selbst, durch jene grundlegende Qualifizierung der Folge kontrazeptiven Verhaltens jene Qualität als "Nebenfolgen", die bewirkt, daß sie selbst wiederum, durch die Erhaltung des grundlegenden Sinnes von ehelicher Liebe, ganz anders beurteilt werden müssen, als wenn man diese Unterscheidung von handlungs-konstitutiven bzw. -spezifizierenden und anderen Folgen nicht trifft?
283b Es ist offensichtlich: Jede aristotelische Ethik ist ausgesprochen teleologisch; das wird allgemein zugegeben. Dennoch spricht Aristoteles von Handlungen, die in sich schlecht (auta phaula) und immer gefehlt sind. "Demnach gibt es hier nie ein richtiges Verhalten, sondern immer und lediglich ein verkehrtes, und das Gute und Schlechte, liegt bei solchen Dingen nicht in den Umständen, wie wenn man sich z. B. beim Ehebruch darum fragte, mit wem und wann und wie er erlaubt sei, sondern es ist überhaupt gefehlt, irgend etwas derartiges zu tun."4 (Fs)
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283c Thomas argumentiert ebenfalls teleologisch, wenn er behauptet, die Ehe sei unauflöslich, weil ihre Auflösbarkeit zur Folge hätte, daß die Frau keine gleichwertige Gefährtin, sondern nur eine Sklavin des Mannes wäre; die Lüge sei schlecht, weil sonst die menschliche Kommunikation, das Zusammenleben usw. verunmöglicht würde. Die Trunkenheit sei sittlich verwerflich, weil durch sie der Mensch seine Würde als ein Wesen verliert, das aufgrund der Vernunft handelt; Fortpflanzung sei nur innerhalb der Ehe erlaubt, weil alles andere eine Ungerechtigkeit gegenüber dem Kind wäre, denn ein anderer Modus menschlicher Prokreation hätte zur Folge, daß das Kind der menschlich-spezifischen Grundlage seiner Entfaltung entbehren würde; usw. All diesen "Folgen" ist jedoch eigen, daß sie nicht irgendwelche, kontingente, Folgen sind, sondern jene Folgen, die für die betreffende Handlungsweise als spezifisch menschlicher selbst konstitutiv sind, d. h. ihren objektiven Gehalt aufzeigen. Den Zusammenhang von Handlungen mit dieser Art von Folgen nicht zu beachten, bedeutet, den menschlichen Sinn dieser Handlungsweisen (Fortpflanzung, Sprechen etc.) selbst nicht mehr zu beachten.5 Alle andern möglichen Folgen müssen hingegen aufgrund des genuin menschlich-sittlichen Sinnes von Handlungen gewichtet werden. Ihr effektives Eintreten kann gerade aufgrund der konstitutiven, "objektiven" Folgeeigenschaften von Handlungen neue Typen sittlichen Verhaltens begründen, z. B. Verzicht und Opfer. Sie können gerade auch in ihrem Charakter als "unangenehme" Folgen zu einer Vertiefung des objektiven, konstitutiven Sinnes menschlicher Handlungen führen. So wird z. B. die Tugend der Wahrhaftigkeit, durch den Verzicht auf Lüge in einer Notsituation vertieft und bestärkt; und das gereicht nicht nur zum vollmenschlichen Wohl des Handelnden, sondern auch zum Wohl der Gesellschaft (das Erleiden von Ungerechtigkeit kann selbst zum sittlichen Wert werden; was wäre aus der abendländischen Philosophie geworden, wenn Sokrates die "Folgen" seiner Liebe zur Wahrheit in die Waagschale geworfen hätte?). Ein anderes Beispiel: Das sogenannte "unerwünschte Kind" wird auf dem Hintergrund einer unverfälschten ehelichen Liebe gerade zu einem Prüfstein dieser Liebe und zu einer Chance für ihre Vertiefung. All dies kann selbst "teleologisch" begründet werden, aber nur aufgrund der Festlegung einer anthropologisch verankerten Hierarchie von Folgen. (Fs; Fußnote)
284a Eine "teleologische" Ethik, die eine qualitative, sittliche Differenzierung von im sittlichen Sinne handlungskonstitutiven (bzw. Handlungen als menschliche, sittliche Handlungen spezifizierenden) und solchen Handlungen nur zufallenden, "umstehenden", kontingent situationsbedingten, sie eventuell erschwerenden oder belastenden Folgen nicht kennt, muß das "Handlungsobjekt" deshalb notwendigerweise auf einer nur naturalen, physizistischen Ebene definieren. Die möglichen Inhalte von menschlichen Handlungen sind dann sämtliche nur "vorsittliche Güter", deren moralische Qualifizierung einzig und allein durch das in einer Güterabwägung gewichtete Ensemble der Folgen bestimmt wird. Obwohl die handlungskonstitutiven Folgen wirkliche Folgen sind, bezeichnet man sie jedoch für gewöhnlich nicht mit diesem Namen. Diese Tatsache führt zu einem scheinbaren Deontologismus. Sowohl in der Umgangssprache, der die moralwissenschaftliche Terminologie folgt, meint man mit Folgen die kontingenten, situationsbedingten Auswirkungen einer Handlung. Das Gefüge der konstitutiven, den objektiv-menschlichen oder sittlichen Gehalt einer Handlung spezifizerenden Folgen oder Wirkungszusammenhänge werden eher mit Begriffen wie "die Natur einer Handlung" usw. ausgedrückt. Die "Natur" der Sprache wird in diesem Sinne im Ensemble jener durch die auf menschliche Geistigkeit bezogenen menschliche Sprachfähigkeit und durch die Soziabilität des Menschen bestehenden Wirkungszusammenhänge oder Folgen bestimmt, die bestimmte Sprechakte als Lüge qualifizieren lassen; die "Natur des ehelichen Aktes" ist das Ensemble jener im Kontext des menschlichen Suppositums stehenden Wirkungszusammenhänge und Folgen, die ausmachen, daß es sich um einen Akt ehelicher und vollmenschlicher Liebe handelt usw. (Fs)
285a Deshalb erweist sich die sogenannte "teleologische Ethik" als eine Theorie, die prinzipiell alle Folgen nur als kontingente, umstandsbedingte, und demnach sittlich nicht-konstitutive Folgen betrachtet. Sie geht aus von der radikalen sittlichen Gehaltlosigkeit oder "Indifferenz" menschlicher Handlungen um diesen sittlichen Gehalt durch die Abwägung der von diesen Folgen betroffenen Güter zu rekonstruieren. (Fs)
285b Dabei drängen sich folgende Fragen auf: Welches ist das Kriterium, gemäß dem diese Güterabwägung vorgenommen wird? Muß es nicht selbst wiederum ein in sich selbst "vorsittliches" Gut sein? Und wenn nicht, wenn es sich also um Wertkriterien handelt: Woher stammen diese Werte? Sie können ja nicht selbst teleologisch begründet sein. Und drittens: Wie kann man aus einer abwägenden Kombination von "vorsittlichen Gütern" einen sittlichen Wert rekonstruieren? Der Verdacht erhärtet sich, daß in der teleologi-schen Ethik ein versteckter naturalistischer Fehlschluß enthalten ist, bzw., um diesem Fehlschluß zu entgehen, ein ebenso verborgener wie radikaler Deontologismus bzw. Wertidealismus. (Fs)
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