Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Natur als Grundlage der Moral Titel: Natur als Grundlage der Moral Stichwort: lex naturalis, Naturgesetz: Verdunkelung; Verdunkelung in ganzen Kulturen Kurzinhalt: Allgemein läßt sich sagen, daß die lex naturalis in dem Maße im Menschen zum Tragen kommt ... in dem sich in einem Menschen die Tugenden entwickeln, d. h. das Streben der Vernunft gemäß geordnet ist Textausschnitt: 58a Die Einordnung der Lehre vom Naturgesetz in die allgemeinere Bestimmung des sittlichen Handelns als vernunftgemäßes Handeln verschafft auch Klärung darüber, was Thomas meint, wenn er von einer "Zerstörung" des Naturgesetzes oder seiner Verdunkelung spricht. (Fs)
258b Allgemein läßt sich sagen, daß die lex naturalis in dem Maße im Menschen zum Tragen kommt, und d. h. auch ihre ganz präzeptive, handlungsleitende Kraft zur Entfaltung zu bringen vermag, in dem sich in einem Menschen die Tugenden entwickeln, d. h. das Streben der Vernunft gemäß geordnet ist. Im Falle des Tugendhaften nehmen ja die sinnlichen Strebepotenzen und der Wille an der ordinatio rationis teil, unterstützen diese und lassen die natürliche Vernunft ihre ganze praktisch-kognitive Wirksamkeit entwickeln. In umgekehrter Weise ist es das Laster, die habituelle Unordnung und Verkehrung der Strebungen also, welches die "lex naturalis" im Menschen zum Verdunkeln bringt. (Fs) (notabene)
258c Thomas behandelt diese Frage bekanntlich im Artikel 6 der Quaestio 94 von I - II: Die ersten und allgemeinsten "principia communia" können, in ihrer universalen Geltung, niemals aus dem "Herzen" des Menschen ausgelöscht werden; wohl sei es aber möglich, daß ihre Anwendung im konkreten Fall durch appetitive Einflüsse oder eine Leidenschaft gehindert werde. Was die übrigen, die aufgrund von "inventio" gefundenen sekundären Prinzipien betrifft, so können sie, d. h. ihre kognitive Präsenz, tatsächlich aus dem Herzen des Menschen ausgelöscht werden. Sei es durch falsche, aber rein intellektuelle Überzeugungen, also kognitive Fehlhaltungen, wie sie auch in der spektulativen Erkenntnis vorkommen können; oder aber durch schlechte Sitten, Gewohnheiten oder Laster.1 (Fs) (notabene)
258d Damit erweist sich, daß es sich bei der Verdunkelung oder Zerstörung der lex naturalis im Menschen um dasselbe Geschehen handelt, das sich in der habituellen Zerstörung des "ordo rationis" durch das Laster vollzieht. Beide Themenkreise behandeln denselben Gegenstand aus einem je anderen Blickwinkel; es zeigt sich einmal mehr, daß die Themen "Naturgesetz", "sittliche Tugend" und "recta ratio" bei Thomas eine sachliche Einheit bilden. (Fs)
258e Ebenfalls kann das Naturgesetz im verschiedenen kulturellen Kontext in verschiedenem Grade wirksam sein. Das gesellschaftliche Umfeld, historisch gewachsene Sitten, Bräuche und Gewohnheiten können einen solchen Einfluß ausüben. Gerade wenn man verstanden hat, worin die lex naturalis besteht, wird man auch das Phänomen seiner teilweisen Verdunkelung in ganzen Kulturen verstehen können. Partielle Nichtübereinstimmung moralischer Normen in verschiedenen Kulturen ist jedenfalls kein Argument gegen die Existenz und die Einheit des Naturgesetzes; sie ist nur ein Argument für die Existenz der menschlichen Freiheit und ihre Gefährdetheit. Ebenso ist eine mögliche, und tatsächlich vorhandende, Entwicklung bzw. Dekadenz des moralischen Bewußtseins ganzer Kulturen auf diese Weise zu verstehen.2 (Fs) ____________________________
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