Autor: Ratzinger, Josef Buch: Einführung in das Christentum Titel: Einführung in das Christentum Stichwort: Paradox der antiken Philosophie; Paulus; Tertullian; Neuplatonismus; Theologie: physische, politische, mythische; Gegenwart; Interpretationschristentum Kurzinhalt: Das Paradox der antiken Philosophie besteht; Tertullian: Christus hat sich die Wahrheit genannt, nicht die Gewohnheit Textausschnitt: 129a Das gegensätzliche Schicksal von Mythos und Evangelium in der antiken Welt, das Ende des Mythos und der Sieg des Evangeliums sind, geistesgeschichtlich betrachtet, wesentlich zu erklären aus dem gegensätzlichen Verhältnis, das beide Male zwischen Religion und Philosophie, zwischen Glaube und Vernunft errichtet worden ist. Das Paradox der antiken Philosophie besteht, religionsgeschichtlich gesehen, darin, dass sie denkerisch den Mythos zerstört hat, aber gleichzeitig religiös ihn neu zu legitimieren versuchte - das heißt: dass sie religiös nicht revolutionär, sondern höchstens evolutionär war, Religion als Sache der Lebensordnung und nicht als Sache der Wahrheit behandelt hat. Paulus hat im Anschluss an die Weisheitsliteratur diesen Vorgang im Römerbrief (1,18-31) in der Sprache der prophetischen Predigt (bzw. der alttestamentlichen Weisheitsrede) völlig exakt beschrieben. Bereits im Weisheitsbuch, c 13-15, findet sich der Hinweis auf dieses tödliche Schicksal der antiken Religion und auf die Paradoxie, die in jener Auseinandertrennung von Wahrheit und Frömmigkeit liegt. Paulus greift das dort ausführlich Gesagte in wenigen Versen auf, in denen er das Geschick der antiken Religion aus diesem Zusammenhang der Trennung von Logos und Mythos schildert: »Es ist ja, was an Gott erkennbar ist, unter ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbar gemacht ... Aber, obwohl sie Gott erkannten, haben sie ihm nicht als Gott Ehre und Dank erwiesen ... Sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit der Nachbildung eines vergänglichen Menschen, fliegender, vierfüßiger und kriechender Tiere ...«(Rom 1,19-23). (Fs) (notabene)
129b Die Religion geht nicht den Weg des Logos, sondern verharrt bei dem als wirklichkeitslos durchschauten Mythos. Damit war ihr Untergang unvermeidlich; er folgte aus der Abtrennung von der Wahrheit, die dazu führte, dass sie als bloße »institutio vitae«, das heißt als bloße Lebenseinrichtung und Form der Lebensgestaltung, angesehen wurde. Dieser Situation gegenüber hat Tertullian in einem großartig kühnen Wort mit Nachdruck die christliche Position beschrieben, wenn er sagt: »Christus hat sich die Wahrheit genannt, nicht die Gewohnheit«1. Ich glaube, dass dies einer der wirklich großen Sätze der Väter-Theologie ist. Der Kampf der frühen Kirche und die bleibende Aufgabe, die dem christlichen Glauben gestellt ist, wenn er er selbst bleiben will, ist darin in einzigartiger Dichte zusammengefasst. Der Vergötzung der consuetudo Romana, des »Herkommens« der Stadt Rom, die ihre Gewohnheiten zum selbstgenügsamen Maßstab des Verhaltens machte, tritt der Alleinanspruch der Wahrheit entgegen. Das Christentum hat sich damit entschlossen auf die Seite der Wahrheit gestellt und sich so von einer Vorstellung von Religion abgewandt, die sich damit begnügt, zeremonielle Gestalt zu sein, der man schließlich auf dem Weg der Interpretation auch irgendeinen Sinn beilegen kann. (Fs)
130a Noch ein Hinweis mag das Gesagte verdeutlichen. Die Antike hatte sich schließlich das Dilemma ihrer Religion, ihrer Abgeschiedenheit von der Wahrheit des philosophisch Erkannten, zurechtgelegt in der Idee dreier Theologien, die es gebe: physische, politische und mythische Theologie. Sie hatte das Auseinandertreten von Mythos und Logos gerechtfertigt mit der Rücksicht auf das Empfinden des Volkes und mit der Rücksicht auf den Nutzen des Staates, insofern mythische Theologie zugleich politische Theologie ermögliche. Anders ausgedrückt: Sie hatte in der Tat Wahrheit gegen Gewohnheit, Nützlichkeit gegen Wahrheit gestellt. Die Vertreter der neuplatonischen Philosophie gingen einen Schritt weiter, indem sie den Mythos ontologisch interpretierten, ihn als Symbol-Theologie auslegten und ihn damit auf dem Weg der Auslegung zur Wahrheit hin zu vermitteln versuchten. Aber was nur noch durch Interpretation bestehen kann, hat in Wirklichkeit aufgehört zu bestehen. Der menschliche Geist wendet sich mit Recht der Wahrheit selbst zu und nicht dem, was mit der Methode der Interpretation auf Umwegen als mit der Wahrheit noch vereinbar erklärt werden kann, selbst jedoch keine Wahrheit mehr hat. (Fs)
131a Beide Vorgänge haben etwas bedrängend Gegenwärtiges an sich. In einer Situation, in der die Wahrheit des Christlichen zu entschwinden scheint, zeichnen sich im Kampf um das Christentum heute gerade die beiden Methoden wieder ab, mit denen einst der antike Polytheismus seinen Todeskampf bestritten und nicht bestanden hat. Auf der einen Seite steht der Rückzug aus der Wahrheit der Vernunft in einen Bereich bloßer Frömmigkeit, bloßen Glaubens, bloßer Offenbarung; ein Rückzug, der in Wirklichkeit, gewollt oder ungewollt, zugegeben oder nicht, in fataler Weise dem Rückzug der antiken Religion vor dem Logos, der Flucht vor der Wahrheit in die schöne Gewohnheit, vor der Physis in die Politik gleicht. Auf der anderen Seite steht ein Verfahren, das ich abkürzend als Interpretationschristentum bezeichnen möchte. Hier wird mit der Methode der Interpretation der Skandal des Christlichen aufgelöst und, indem es solchermaßen unanstößig gemacht wird, zugleich auch seine Sache selbst zur verzichtbaren Phrase gemacht, zu einem Umweg, der nicht nötig ist, um das Einfache zu sagen, das hier durch komplizierte Auslegungskünste zu seinem Sinn erklärt wird. (Fs)
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