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Autor: Kauffmann, Clemens

Buch: Leo Strauss zur Einführung

Titel: Leo Strauss zur Einführung

Stichwort: Naturrecht: Konvention - Natur (immer gültig); physei dikaion - nomos tes physeos; Maßstab: Zweckhierarchie

Kurzinhalt: Es gibt eine universal gültige Hierarchie der Zwecke, es gibt aber keine universal gültigen Regeln für die Handlungen

Textausschnitt: Auszug s. unten 196A:

»Es gibt eine universal gültige Hierarchie der Zwecke, es gibt aber keine universal gültigen Regeln für die Handlungen.« Die Handlungsorientierung erfolgt durch ein Inbeziehungsetzen der verschiedenen konkurrierenden Zwecke in einer Entscheidungssituation. Dabei ist keinesfalls allein der Rang der Zwecke für die Entscheidung maßgeblich, es muß auch die Dringlichkeit der Zweckerfüllung in einer gegebenen Situation berücksichtigt werden. Unter Umständen ist das Dringende dem Ranghöheren vorzuziehen. Allerdings gibt es auch keine universale Handlungsregel, die vorschreibt, der Dringlichkeit eines Zweckes unbedingten Vorrang einzuräumen. Der einzig universell gültige Maßstab ist die Zweckhierarchie. Deshalb ist es »unsere Pflicht, die höchste Aktivität, sosehr wir können, zu unserer dringendsten oder notwendigsten Sache zu machen«. Von Natur aus sind wir gehalten, unsere höchste Möglichkeit als unsere dringendste anzuerkennen.

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194a Nach der Entdeckung der Unterscheidung von Natur und Konvention mußte sich die Frage nach der Reichweite des Natürlichen im Bereich des Politischen stellen. Die Grundlage des Naturrechts im engeren Sinne bildet die natürliche Sozialitat des Menschen, die vor allem in seiner Vernunft- und Sprachbefähigung zur Geltung kommt. Aber auch im vorvernünftigen Bereich zeigt sich die uranfängliche Geneigtheit des Menschen zu seinesgleichen, in Liebe, Zuneigung, Freundschaft und Mitleid. Derartige Emotionen interpretiert die klassische Philosophie nicht als genetisch und evolutionär bedingte Instrumente zur Steigerung des eigenen Nutzens, sondern als Folge der ursprünglichen Angewiesenheit der Menschen auf das Miteinander. Geht man von der Geselligkeit als einem Prinzip des menschlichen Lebens aus, dann ist auch die Gemeinschaftstugend schlechthin, die Gerechtigkeit, dem Menschen natürlich. Die richtige Ordnung der Seele, also Gerechtigkeit, bringt es mit sich, daß sich der einzelne gut in die Gemeinschaft einfügt und das Gemeinwohl fördert. Die Natürlichkeit von Gerechtigkeit und Recht impliziert zugleich eine Begrenzung der natürlichen Freiheit. Nicht alles, was möglich ist, ist erlaubt. Jeder Mensch hat davon in irgendeiner Weise eine Ahnung, die sich in seinem »natürlichen Gewissen« ausdrückt. »Zurückhaltung ist daher genauso natürlich oder uranfänglich wie Freiheit.« Die primäre Frage ist, ob es ein von Natur aus Rechtes, ein Naturrecht, gibt. Dieser Frage geht die Annahme voraus, wonach Dinge wie Gesundheit oder Intelligenz für den Menschen von Natur aus gut sind. Wer würde das bestreiten wollen? »Die genaue Streitfrage betraf deshalb den Status jenes Rechts, welches universell anerkannt ist: ist jenes Recht bloß die Bedingung für das Zusammenleben einer besonderen Gesellschaft, das heißt einer Gesellschaft, die auf Vertrag oder Übereinkunft beruht, wobei jenes Recht seine Gültigkeit von dem vorhergehenden Vertrag ableitet, oder gibt es da eine Gerechtigkeit zwischen Menschen als Menschen, die von keinerlei menschlicher Verabredung her stammt? Mit anderen Worten, basiert Gerechtigkeit nur auf der Berechnung von dem Vorteil des Zusammenlebens, oder ist sie um ihrer selbst willen wählenswert und deshalb >von Natur<?« Die Annahme eines von Natur aus Rechten könnte die Vorstellung von einem natürlichen Gesetz zur Folge haben, das über dem konventionellen Gesetz steht. »Mit dem natürlichen Gesetz ist ein Gesetz gemeint, welches bestimmt, was richtig und falsch ist, und das von Natur Kraft hat oder inhärent, also überall und immer, gültig ist.« Die Unterscheidung zwischen Naturrecht (physei dikaion) und Naturgesetz (nomos tes physeos) muß genau beachtet werden, besonders in dem Komplex des klassischen Naturrechts, den Strauss das sokratisch-platonisch-stoische Naturrecht nennt. (Fs) (notabene)

196A Das klassische Naturrecht darf nach Strauss nur eingeschränkt legalistisch verstanden werden. Die Einsicht in das Naturrecht ist nicht mit der Erkenntnis von universal gültigen Handlungsregeln verbunden. Es formuliert keine gesetzlichen Normen, die bestimmte Handlungen verbieten und andere vorschreiben. Das Naturrecht bezieht sich auf die Ordnung des Ganzen. »Es gibt eine universal gültige Hierarchie der Zwecke, es gibt aber keine universal gültigen Regeln für die Handlungen.« Die Handlungsorientierung erfolgt durch ein Inbeziehungsetzen der verschiedenen konkurrierenden Zwecke in einer Entscheidungssituation. Dabei ist keinesfalls allein der Rang der Zwecke für die Entscheidung maßgeblich, es muß auch die Dringlichkeit der Zweckerfüllung in einer gegebenen Situation berücksichtigt werden. Unter Umständen ist das Dringende dem Ranghöheren vorzuziehen. Allerdings gibt es auch keine universale Handlungsregel, die vorschreibt, der Dringlichkeit eines Zweckes unbedingten Vorrang einzuräumen. Der einzig universell gültige Maßstab ist die Zweckhierarchie. Deshalb ist es »unsere Pflicht, die höchste Aktivität, sosehr wir können, zu unserer dringendsten oder notwendigsten Sache zu machen«. Von Natur aus sind wir gehalten, unsere höchste Möglichkeit als unsere dringendste anzuerkennen. Nur sind die individuellen Bedingungen sehr unterschiedlich, die es dem einzelnen erlauben, sich auf seine höchste Menschlichkeit hin zu konzentrieren und anzustrengen. Deshalb kann die Dringlichkeit nicht eo ipso immer auf der Waagschale unserer höchsten Möglichkeit lasten. Die universale Hierarchie der Zwecke reicht als Maßstab aus, Werturteile über Erscheinungen innerhalb der menschlichen Sphäre zu fällen, sie reicht aber nicht aus, unsere Handlungen umfassend anzuleiten. Die klassische politische Philosophie macht dies klar, indem sie der Naturrechtslehre die Form einer Strukturerkenntnis über das beste Regime gibt. Eine so konzipierte, in bezug auf die politische Steuerung äußerst zurückhaltende »Lehre« bedarf zur Bewältigung des politischen Geschehens der Ergänzung durch die Kunst des Staatsmannes.1 (Fs) (notabene)

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