Autor: Kauffmann, Clemens Buch: Leo Strauss zur Einführung Titel: Leo Strauss zur Einführung Stichwort: Naturrecht, Natur; Odysseus; klassische Naturbegriff: zwei Dimensionen; Lehre vom besten Regime; exoterisch - esoterisch; Cicero Kurzinhalt: moderne Philosophie als »Revolution gegen die Natur«; Doppelgesichtigkeit der klassischen politischen Philosophie: exoterische und eine esoterische Textausschnitt: 188a Was versteht man unter »Natur« in der Rede vom »klassischen Naturrecht«? »Natur« ist von Anbeginn das Thema der Philosophie. Bei Homer kommt der entsprechende griechische Ausdruck »physis« nur einmal vor. Odysseus erzählt, Hermeias habe eine heilsame Pflanze dem Boden entrissen und ihre »Natur« erklärt, was dadurch geschah, daß er ihr Aussehen, ihr »Verhalten« oder ihre »Lebensweise« und das Verhalten von Menschen und Göttern ihr gegenüber beschrieb. Im ursprünglichen Sinne bezeichnet »Natur« das Aussehen und Wirken einer Klasse von Dingen, die weder von Göttern noch von den Menschen gemacht sind. Daneben gibt es aber auch Dinge, von denen man sagt, sie seien »von Natur«, weil sie als erste Dinge nicht entstanden sind, sondern alle anderen Dinge durch sie entstehen. Der klassische Naturbegriff hat in der Hauptsache zwei Dimensionen der Bedeutung, erstens die »Lebensweise« oder »der wesentliche Charakterzug eines Dinges oder einer Gruppe von Dingen« und zweitens die »ersten Dinge«. Die ersten Dinge sind immer und unvergänglich, unabänderlich und von erkennbarer Notwendigkeit. Sie beruhen nicht auf Konventionen und haben als letzte Ursache der anderen Dinge eine höhere Würde als diese. Sie konstituieren die Ordnung, in der das Nicht-immer-Seiende seinen Ort findet. Die Kenntnis der verschiedenen »Naturen« beinhaltet die Erkenntnis von ihrer Begrenztheit. »Natur« ist primär ein Ausdruck der Unterscheidung. Im ursprünglichen Sinn ist nicht so etwas gemeint wie »die große Mutter Natur«, welche die Totalität aller Erscheinungen umfaßt. Gemeint sind die einzelnen Dinge oder Klassen von Dingen, die als Teile des Ganzen verschieden sind. In Verbindung mit der Vorstellung von ersten Dingen tritt neben die unterscheidende Funktion des Naturbegriffs seine zweite Funktion, Maßstab zu sein. Erste Dinge haben Vorrang vor anderen. Folglich hat auch eine Lebensweise, die auf erste Dinge ausgerichtet ist, Vorrang vor anderen Lebensweisen. Natur wird zum Maßstab für die richtige Lebensweise und zugleich zur Voraussetzung von Werturteilen. Wenn Leo Strauss die moderne Philosophie als »Revolution gegen die Natur« kennzeichnet, dann ist damit nicht nur der Herrschaftsanspruch der modernen Wissenschaft über die Natur im Sinne der natürlichen Umwelt gemeint, sondern der Generalangriff der Moderne auf die basale Selbsterkenntnis, daß die rechte Lebensweise natürliche Beschränkungen einschließt und ein unlösbares politisches Dilemma umfaßt. Die Revolution gegen die Natur ist aber auch eine Revolution gegen die Philosophie, die in dem politischen Dilemma, in dem der Mensch steht, »Natur« entdeckt und auf diese Weise den Philosophen von den Autoritäten befreit. Das ist ja der Hauptpunkt der Kritik an Hobbes, daß er »auf Treu und Glauben« die Ansicht, politische Philosophie sei möglich und notwendig, akzeptierte, sie also nicht prüfte. Hätte er sie geprüft, hätte er womöglich erkannt, daß sein politischer Hedonismus und seine theoretische Konstruktion ihm die Grundlage, auf der er zu stehen vermeinte, unter den Füßen wegzogen. Die Revolution gegen die Philosophie ist ein Angriff auf das philosophische Leben als die natürliche und rechte Lebensweise. Der Kreis schließt sich.1 (Fs)
189a Für die Naturrechtsinterpretation von Leo Strauss ist die klassische Einsicht von entscheidender Bedeutung, daß sich die Naturrechtslehre mit der Lehre vom besten Regime überschneidet und einen wesentlich politischen Charakter hat. Es war vor allem der Einfluß der Offenbarungsreligion, der diesen Charakterzug verwischt hat. Der politische Grundzug des klassischen Naturrechts muß immer in dem Zusammenhang verstanden werden, daß für die klassische Philosophie das politische Leben von wesentlich geringerer Würde war als das philosophische Leben. Dies führt zu der zentralen Schwierigkeit. »Wenn das letzte Ziel des Menschen transpolitisch ist, dann würde das Naturrecht eine transpolitische Wurzel zu haben scheinen.« Der politische Charakter des Naturrechts verbietet offenbar die Annahme einer transpolitischen Wurzel. Und deshalb weist Strauss darauf hin, daß die Natur des Menschen und die Vollendung seiner Natur, also die Tugend, nach klassischer Ansicht zwei ganz verschiedene Dinge sind, weshalb die Naturrechtslehre ihren Ansatzpunkt nicht einseitig in der Erforschung der menschlichen Natur suchen darf. Als politische Lehre im engeren Sinn muß sie ihren dialektischen Ausgangspunkt in den Meinungen über das Gerechte suchen. Damit zeigt die bei Strauss offengelegte klassische Naturrechtslehre die typische Doppelgesichtigkeit der klassischen politischen Philosophie. Es gibt eine exoterische und eine esoterische Version. Die exoterische, für die politische Öffentlichkeit anwendbare Version findet vor allem in der sogenannten stoischen Naturrechtslehre Ausdruck. Das erklärt, weshalb Strauss die »sokratisch-platonisch-stoische Naturrechtslehre« zusammenfassen kann und damit eine Beziehung herstellt, die niemand vor ihm gesehen hat. (Fs)
189a Für die Naturrechtsinterpretation von Leo Strauss ist die klassische Einsicht von entscheidender Bedeutung, daß sich die Naturrechtslehre mit der Lehre vom besten Regime überschneidet und einen wesentlich politischen Charakter hat. Es war vor allem der Einfluß der Offenbarungsreligion, der diesen Charakterzug verwischt hat. Der politische Grundzug des klassischen Naturrechts muß immer in dem Zusammenhang verstanden werden, daß für die klassische Philosophie das politische Leben von wesentlich geringerer Würde war als das philosophische Leben. Dies führt zu der zentralen Schwierigkeit. »Wenn das letzte Ziel des Menschen transpolitisch ist, dann würde das Naturrecht eine transpolitische Wurzel zu haben scheinen.« Der politische Charakter des Naturrechts verbietet offenbar die Annahme einer transpolitischen Wurzel. Und deshalb weist Strauss darauf hin, daß die Natur des Menschen und die Vollendung seiner Natur, also die Tugend, nach klassischer Ansicht zwei ganz verschiedene Dinge sind, weshalb die Naturrechtslehre ihren Ansatzpunkt nicht einseitig in der Erforschung der menschlichen Natur suchen darf. Als politische Lehre im engeren Sinn muß sie ihren dialektischen Ausgangspunkt in den Meinungen über das Gerechte suchen. Damit zeigt die bei Strauss offengelegte klassische Naturrechtslehre die typische Doppelgesichtigkeit der klassischen politischen Philosophie. Es gibt eine exoterische und eine esoterische Version. Die exoterische, für die politische Öffentlichkeit anwendbare Version findet vor allem in der sogenannten stoischen Naturrechtslehre Ausdruck. Das erklärt, weshalb Strauss die »sokratisch-platonisch-stoische Naturrechtslehre« zusammenfassen kann und damit eine Beziehung herstellt, die niemand vor ihm gesehen hat. (Fs)
190A Cicero überliefert das stoische Naturrecht und wurde von der modernen, historischen Interpretation als dessen Anhänger apostrophiert, was Strauss für irreführend hält. Es ist irreführend schon deshalb, weil Cicero ausdrücklich auf den esoterischen Charakter seiner Dialoge hinweist. Parallel zur esoterisch-exoterischen Doppelgestalt des klassischen Naturrechts verlaufen weitere Ambiguitäten. Der Sokratische Ansatz der Philosophie richtet sich auf die Untersuchung der Naturen der Dinge, dessen, was jedes einzelne im Unterschied zu jedem anderen ist. Seine Philosophie ist nach Strauss deshalb nicht im Ansatz metaphysisch, denn das hieße, das Augenmerk unmittelbar auf das Wissen vom Ganzen zu richten. Sokrates betrachte die Menschen zunächst in ihrem Verhältnis zu der Klasse von Dingen, der sie angehören, mit anderen Worten, im Verhältnis zur menschlichen Gesellschaft. Der einzelne Mensch ist demnach in einer doppelten Weise Teil eines Ganzen, einmal als Angehöriger seiner Art als ganzer und einmal als Teil des Ganzen schlechthin. Die Frage ist, inwieweit der einzelne nicht nur indirekt über seine Artzugehörigkeit, sondern unmittelbar für das Ganze offen ist. Das Naturrecht als politische Lehre geht von den verschiedenen Meinungen über die Gerechtigkeit aus und klärt sie in der dialektischen Auseinandersetzung. Schon zu Beginn des Kapitels über das klassische Naturrecht hat Strauss auf den Common sense als den notwendigen Ansatzpunkt der politischen Philosophie des Sokrates und der Sokratischen Dialektik hingewiesen, wie auch allgemein die Meinung das Element der politischen Sphäre ist. Klassisches Naturrecht scheint auf dieser Ebene damit gerade das nicht zu sein, was man denen, die sich in der neueren Politischen Wissenschaft mit der Naturrechtslehre befaßt haben, vorhält, nämlich »ontologisch-normativ«. Es ist politisch und erfährt dementsprechend eine politische Behandlung. Konsequenterweise geht Strauss in der Beschreibung der sokratisch-platonisch-stoischen Naturrechtslehre in genau der verlangten Weise dialektisch vor, indem er den Widerspruch zwischen den beiden am weitesten verbreiteten Meinungen über die Gerechtigkeit in einen grundsätzlichen Selbstwiderspruch der Naturrechtslehre vorantreibt. Die dialektische Überlegung führt zunächst zu der bekannten Konsequenz, daß die Weisen die absolute Aufsicht führen müssen. Damit ist bereits auf eine Vorstellung von Gerechtigkeit verwiesen, welche die Autorität des Gesetzes transzendiert. Ist aber der verbindliche Rahmen des Gesetzes erst einmal gebrochen, dann führt die dialektische Fortentwicklung des Gedankens unmittelbar zu einer kommunistischen Universalgesellschaft vollkommener Menschen. (Fs)
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