Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Natur als Grundlage der Moral Titel: Natur als Grundlage der Moral Stichwort: Vorsehung, providentia; imago; theonome Autonomie Kurzinhalt: ... keine "theonome Autonomie" in dem Sinne: göttliche Vorsehung als eine "transzendental" umgreifende Rahmenordnung, innerhalb derer der Mensch in "schöpferischer" Weise die Ordnung des guten Handelns selbst gestaltet ... Textausschnitt: 196a Die Abhängigkeit der Geschöpfe von Gott ist nicht nur eine Abhängigkeit in ihrer seinsmäßigen Konstituiertheit, zu der auch die Erhaltung (conservatio) im Sein gehört; denn zudem ordnet Gott alle Geschöpfe auf ihr Ziel hin. Die ratio, der "Plan", dieser Hinordnung ist die Vorsehung oder providentia.1 Das Unterworfensein unter dieser Ordnung der göttlichen Vorsehung ist selbst ein bonum, denn es bedeutet, über die seinsmäßige Teilhabe hinaus, auch eine operative Partizipation an der divina bonitas, welcher die Geschöpfe durch ihre Tätigkeit im Vollsinne teilhaftig werden. (Fs)
196b Es ist ohne weiteres einsichtig, daß der imago-Charakter der personalen Autonomie des Menschen selbst eine besondere Weise der Teilhabe an dieser ratio ordinis in finem begründen muß. Deshalb kann es nicht erstaunen, daß Thomas aus der "imago Dei" im Menschen gerade auch auf eine besondere, menschliche Art des Unterworfenseins unter die "providentia" schließt: Der Mensch ist als geistiges Geschöpf der göttlichen Vorsehung nicht als "provisus" unterworfen, sondern er ist selbst ein "providens", er hat also an ihr aktiv teil.2 Thomas sagt nicht: Der Mensch ist nur in einer bestimmten Hinsicht der Vorsehung unterworfen, und in anderer Hinsicht autonom. Das eigene, personal-autonome providere des Menschen ist selbst ein bestimmter Modus des Unterworfenseins unter die göttliche Vorsehung; indem der Mensch elektive Freiheit besitzt3 und so seine Handlungen selbst regiert und leitet, ist dies "Selbstregierung", insofern sie personale Akte betrifft, selbst Bestandteil der göttlichen Vorsehung.4 Thomas meint nicht: Die Selbstleitung der menschlichen Akte als personale Akte gehört zu einem Bereich theonom abgesteckter Autonomie oder "nur" menschlicher Vorsehung. Unbeschadet der Tatsache, daß diese Akte auch Akte der menschlichen providentia sind, ist vielmehr gesagt, daß sie, als solche, gerade auch immer Akte der göttlichen Vorsehung sind - eine Aussage, die mit der Autonomievorstellung nicht mehr zu vereinbaren ist. (Fs) (notabene)
197a Tatsächlich liegt hier ja das entscheidende Verständnisproblem; Thomas denkt eben nicht anthropomorph. Er wahrt voll und ganz die radikale Verschiedenheit der göttlichen von der menschlichen Kausalität, so weit diese Verschiedenheit menschlichem Sprechen überhaupt zugänglich ist. Die "causa secunda" ist nicht als autonomes Ausführungsorgan eines als Rahmenordnung gedachten Regierungsplanes gedacht; Gott konzipiert den Plan seiner Vorsehung vielmehr aufgrund seiner Allmacht selbst. Dessen Ausführung ("executio") überläßt er zwar nicht einfach den vernünftigen Geschöpfen, aber er läßt diese an der Ausführung dieses Planes dadurch teilhaben, daß er ihnen die Fähigkeit der Teilhabe an der providentia vermittelt; die ordinatio divina erstreckt sich dabei jedoch weiterhin auf alle Akte des Geschöpfes. Die menschliche Vorsehung, seine personale Autonomie, verhält sich zur göttlichen Vorsehung wie eine partikulare Ursache zur Universalursache.5 Mit diesem Verhältnis ist gemeint: Die Kausalität der menschlichen Vorsehung ist in der Kausalität der göttlichen Vorsehung selbst enthalten; die Partikularursache bezieht sich dabei auf einen Teil, während die Universalursache nicht einen anderen, wenn auch übergeordneten Teil zum Gegenstand hätte, sondern die ganze Wirkung. Die universale Ursache ist also in jeder partikularen Ursächlichkeit anwesend, wirksam, ja ermöglicht diese zweite erst. Die zweite ist ebenfalls wirkliche Ursächlichkeit, aufgrund eingestifteter Fähigkeit, aber nicht in unabhängiger Weise, sondern partizipativ, begründet und getragen von der Erstursache, deren Wirksamkeit zugleich im Innersten der Zweitursache präsent ist.6 (Fs) (notabene)
197b Damit ist vorderhand noch nicht mehr gewonnen, als die Verhinderung falscher, weil anthropomorpher, Vorstellungen. Ich kenne nur eine Stelle, in der Thomas explizit gegen ein anthropomorphes Mißverständnis Stellung bezieht, und zwar in seinem "Compendium Theologiae ad fratrem Reginaldum". Dort heißt es: "Obwohl die göttliche Leitung der Dinge bezüglich der Ausführung der Vorsehung vermittels Zweitursachen geschieht, ist aufgrund des Gesagten klar, daß dennoch die Disposition oder ordinatio der göttlichen Vorsehung sich unmittelbar auf alles bezieht. Denn er ordnet das Erste und Letzte nicht, indem er andere mit der Ordnung des Konkreten (ultima) und Einzelnen beauftragt; so geschieht es unter Menschen, wegen der Schwachheit ihrer Erkenntniskraft (.. .)."7 Und deshalb kann Thomas sagen: "Oportet quod ordinatio providentiae ipsius se extendat usque ad minimos effectus"8; Gott, betont der hl. Thomas, kennt und ordnet auch die Wirkungen der die ordinatio seiner Vorsehung vermittelnden Zweitursachen, denn "andernfalls würden sie aus der Ordnung seiner Vorsehung herausfallen".9 (Fs) (notabene)
198a Die ordinatio der göttlichen Vorsehung erstreckt sich also auch auf die in personaler Autonomie vollzogenen Handlungen des Menschen; sie sind in der göttlichen Vorsehung enthalten, unterliegen ihr und sind Bestandteil der göttlichen Hinordnung des Menschen auf sein Ziel. (Fs)
198b Selbstverständlich lassen sich aus dieser Erkenntnis keine Schlüsse zur Beantwortung der Frage gwinnen: "Was soll ich tun?". Wie schon gesagt, wäre diese Frage zu früh gestellt. Jedenfalls sollte klar geworden sein, daß der Bereich der personalen Autonomie des Menschen und ihre sich aus ihrem imago-Charakter ergebende potestative Eigenart nicht als "theonome Autonomie" in dem Sinne begreifen läßt, daß die göttliche Vorsehung nur eine "transzendental" umgreifende Rahmenordnung wäre, innerhalb derer der Mensch in "schöpferischer" Weise die Ordnung des guten Handelns selbst gestaltet - gewissermaßen also innerhalb eines "kategorialen" Freiraums, in den Gott selbst nicht eingreift und den er zur inhaltlichen Determination dem Menschen überlassen hätte. Diese Ansicht ist angesichts des partizipativen Charakters der imago sinnlos. Sie erweist sich als eine Art "Linsengericht"; als Abtausch der wirklichen, in der wahren Gottebenbildlichkeit bestehenden Größe und Würde des Menschen mit einer "schöpferischen" Autonomie, die den Menschen auf sich selbst und seine Endlichkeit zurückwirft. (Fs)
198c Wenn wir berücksichtigen, daß der göttlichen "Weltregierung" ein Plan (ein ratio) unterliegt, und daß diese ratio gubernationis Ewiges Gesetz genannt wird, dann können wir verstehen, was es unter Voraussetzung des bisher Gesagten, bedeutet, daß das Naturgesetz eine Partizipation des Ewigen Gesetzes im vernünftigen Geschöpf ist. Es wird vor allem einsichtig, daß die lex naturalis nicht einfach einen normativen Freiraum schöpferisch-vernünftiger Regelung durch den Menschen begründen kann - eine solche Auffassung wäre im metaphysischen Kontext uneinsichtig und, wie gesagt, anthropomorph -; das Naturgesetz ist im Menschen vielmehr Teilnahme an der ordinatio der göttlichen Vernunft, eine Teilnahme per modum cognitionis (durch Erkenntnis) und eine solche per modum principii motivi (durch ein bewegendes Prinzip, d. h. natürliche Neigung).10 (Fs) ____________________________
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