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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: lex naturalis = Prinzipien der sittlichen Tugend; Begriff des natürlichen Gesetzes (lex naturalis)

Kurzinhalt: "Lex naturalis" meint also nichts anderes als die Prinzipien der praktischen Vernunft aufgrund derer das Zielstreben der sittlichen Tugend kognitiv geleitet wird

Textausschnitt: 231b Lex naturalis, "natürliches Gesetz" oder "Naturgesetz" ist ein höchst verfänglicher Terminus. Wichtig ist der Kontext, in dem er entsteht. In der scholastischen Lehre von der lex naturalis finden sich zumindest zwei verschiedene Traditionen, die zusammenlaufen: Die altrömische Tradition der Juristen und ihres ius naturale, vor allem Ulpian1 sowie die christliche Theologie des "Gesetzes", die teils biblische Vorgabe ist, teils auf der Augustinischen Lehre über die lex aeterna gründet. Diese jüdisch-christliche Tradition ist für die Terminologie "lex naturalis" ausschlaggebend2. (Fs) (notabene)

231c Erst nachdem nämlich Thomas in seiner Summa Theologiae bereits über die menschlichen Handlungen, ihre Spezifizierung und sittliche Qualifizierung durch die Vernunft, über "gut" und "schlecht" in den menschlichen Handlungen, über die Leidenschaften und die sittlichen Tugenden zumeist in Aristotelischen Kategorien alles Wesentliche gesagt hat, wendet er sich der spezifisch theologischen Frage nach dem Gesetz zu. Er rezipiert zunächst den Augustinischen Begriff des ewigen Gesetzes: Der Vernunft-Plan im göttlichen Geist, demgemäß alles geschaffene Sein auf sein Ziel hingeordnet wird. Dann ist vom "göttlichen Gesetz" (lex divina) die Rede: Der Offenbarung der im göttlichen Geist existierenden Hinordnung der Geschöpfe auf ihr über-natürliches Ziel, das als solches positive (wenn auch nicht menschliche) Satzung ist. Hier wiederum ist das Gesetz des Alten Bundes (lex vetus) von demjenigen des Neuen Bundes zu unterscheiden, der lex nova oder lex evangelica, die vor allem in der Gnade des Heiligen Geistes besteht und erst in zweiter Linie auch lex scripta ist. Weiter ist vom menschlich-positiven Gesetz (lex humana) die Rede. Immer handelt es sich dabei um Formen der "Partizipation" am ewigen Gesetz: Dem von Ewigkeit, sich mit der Vernunft Gottes selbst identifizierenden Plan, gemäß dem die Geschöpfe auf ihr Ziel hingeordnet werden. So gesehen ist auch die ganze Natur als Natur - also die "Naturordnung" - sowohl die menschliche als auch die nichtmenschliche, "Teilhabe am ewigen Gesetz", denn sie ist ja durch dieses "geregelt". "Gesetz" selbst bestimmt sich hier als Ordnung der göttlichen Vernunft (ordinatio rationis divinae) auf das Gute hin. (Fs)

232a "Gesetz" im allgemeinen wird näherhin bestimmt als "Regel und Maßstab, gemäß dem jemand zum Handeln geführt oder von ihm abgehalten wird"; es "verpflichtet zum Handeln"; es ist "Maßstab menschlicher Handlungen"; "erstes Prinzip menschlicher Handlungen"; "etwas, was zur Vernunft gehört"; "etwas, was durch den Akt der Vernunft konstituiert wird"; Gesetze sind "universale, auf Handlungen bezogene Aussprüche (propositiones) der praktischen Vernunft"; die Vernunft, die hier gemeint ist, ist jene Vernunft, die bewegt, weil sie selbst vom Willen bewegt d.h. in Streben eingebettet ist. Der Begriff des Gesetzes erfüllt also alle wesentlichen Eigenschaften einer durch praktische Vernunft erstellten Anordnung und bestimmt sich schließlich als ordinatio rationis3. (Fs)

232b Der Mensch findet sich also erstens eingespannt in eine "Naturordnung". Diese jedoch ist zwar Teilhabe am ewigen Gesetz, selbst jedoch ist sie nicht ein Gesetz, denn "Gesetz" findet sich nur dort, wo praktische Vernunft zu finden ist; jedes Gesetz ist ja ordinatio rationis. Die sinnlichen Neigungen des Menschen jedoch und alle nicht-menschlichen innerweltlichen Lebewesen erstreben das ihnen eigentümliche Gute nicht aufgrund von Vernunft; also stellen sie auch nicht ein "Gesetz" auf. (Fs)

232c Sie unterstehen freilich, als geschaffene Wirklichkeiten, dem ewigen Gesetz. Und insofern sie an diesem teilhaben, kann man sie "Gesetz" nennen; aber nicht im wesentlichen, sondern nur im abgeleiteten (teilhabenden) Sinn4. Diese Art von "Gesetz-Mäßigkeit" ist hier jedoch überhaupt nicht von Interesse. Denn wenn es überhaupt ein für sittliches Handeln und Moral relevantes "natürliches Gesetz" gibt, dann muss es eine Wirklichkeit sein, das der inneren Struktur menschlichen Handelns als freiem, vernunftgeleitetem, willentlichem Handeln entspricht. (Fs)

232d Zweitens findet der Mensch die offenbarte Weisung zum Guten hin (als göttliches Gesetz). Dieses entspringt jedoch nicht seiner Vernunft; es wird von ihr nur anerkannt und aufgenommen. Drittens schließlich ist das menschliche Leben eingebunden in die Weisungen menschlicher Gesetze. Und nun erhebt sich die Frage: Gibt es denn nicht auch eine ordinatio rationis, eine Anordnung oder Weisung der Vernunft zum Guten, die dem Menschen "natürlich" - ihm von Natur aus eigen - ist, und in diesem Sinne ein natürliches Gesetz genannt werden kann? Das heißt: Eine von Natur aus im Menschen bestehende praktische Vernünftigkeit, die im Sinne einer Anordnung der Vernunft unabhängig von göttlicher oder menschlicher Satzung den Weg zum Guten weisen kann? Ein solches "Gesetz" wäre dann weder göttliche noch menschliche positive Weisung und auch nicht "Natur" (denn diese konstituiert als solche keine ordinatio rationis); es wäre nicht ein "Gesetz der Natur" und keine "Naturgesetzlichkeit". Sondern vielmehr etwas, was "von Natur aus" den Charakter eines Gesetzes, d.h. einer Anordnung der Vernunft auf das Gute hin besitzt. Ja, solches gibt es, sagt Thomas: Es ist nichts anderes als die Ordnung, welche die praktische Vernunft des Handlungssubjekts "von Natur aus" durch ihre präzeptiven Akte in den menschlichen Neigungen und Handlungen erstellt. (Fs)

232e Sobald einmal gesagt ist, dass das "natürliche Gesetz" die in den menschlichen Neigungen und Handlungen Ordnung [sic! Fehler im Buch] erstellende praktische Vernunft des Menschen ist, so wird einleuchtend, das im Kontext einer rein philosophischen Ethik der Terminus "Gesetz", zumindest in diesem Zusammenhang, genau genommen redundant ist. Die Kategorie der lex naturalis ist eigentlich nicht etwas Neues, was zur Lehre über die maßstäbliche Rolle der Vernunft hinzukommt, sondern sie weist bei Thomas gerade zurück auf die Lehre von der praktischen Vernunft, auf die Lehre über die menschlichen Handlungen, die Bestimmung von gut und schlecht durch die Vernunft, die Anthropologie von Vernunft, Wille und sinnlichem Streben und die Lehre über die sittliche Tugend5. Neu ist hier lediglich die Einordnung dieser Lehre in den Kontext einer christlichen Gesetzestheologie, eine Einordnung, die Thomas allerdings an anderer Stelle selbst wiederum biblisch zu begründen vermag6, und die im Rahmen einer Philosophie des ewigen Gesetzes vorgenommene Zurückführung menschlicher praktischer Vernunft auf göttliche Vernunft, den Aufweis des theonomen Ursprungs und der theonomen Gründung praktischer Vernunft also (s. unten V. 2 c). (Fs)

233a "Lex naturalis" meint also nichts anderes als die Prinzipien der praktischen Vernunft aufgrund derer das Zielstreben der sittlichen Tugend kognitiv geleitet wird. Die "lex naturalis" ist ein "Gesetz" der praktischen Vernunft, und das heißt: sie ist eine bezüglich menschlicher Strebungen und Handlungen und der Unterscheidung zwischen "gut" und " schlecht" in ihnen maßstäbliche Regelung durch die praktische Vernunft des Menschen und damit auch das Ensemble der kognitiven Prinzipen der sittlichen Tugend. Deshalb genügt es, von nun an, anstatt von "natürlichem Gesetz" oder "Naturgesetz" von praktischen Prinzipien oder den natürlichen Prinzipien der sittlichen Tugend zu sprechen. (Fs) (notabene)

233b Genau dann, wenn man diesen ursprünglichen Kontext einer "Theologie des Gesetzes" vergisst, wird der Begriff "Naturgesetz" problematisch, verfänglich, ja geradezu irreführend. Es entsteht dann aus einer ursprünglich rein theologisch gemeinten Einordnung der Lehre von der praktischen Vernunft und menschlicher personaler Autonomie in den biblischen Kontext des "Gesetzes" eine philosophisch verselbständigte Kategorie, in welcher anstelle der Perspektive der Vernunft dann jene der "Natur" in den Vordergrund tritt. Verstärkt wird dies durch den neuzeitlichen, naturwissenschaftlichen Begriff von "Naturgesetzen" und die Vermischung mit der neuzeitlich-naturrechtlichen Tradition ("Jusnaturalismus"). Das ius naturale, das "von Natur aus Rechte" ist eben gerade nicht "Naturgesetz", sondern wird vielmehr erst durch den praktischen, ordnenden Akt der Vernunft als ein solches "von Natur Rechtes" erfasst. Wenn deshalb Thomas von einer dem menschlich-positiven Gesetz vorgeordneten "lex naturalis" spricht, so vergleicht er dieses wiederum mit ersten Prinzipien der praktischen Vernunft, unter deren Leitung das menschliche Gesetz partikulare Konkretionen "hinzufindet"7. (Fs) (notabene)

233c Damit enthüllt nun die oben angeführte Aussage von Thomas, dass uns die Ziele der Tugenden "von Natur aus bestimmt" sind, erst ihren eigentlichen Sinn: Diese Ziele sind nicht eigentlich Naturfinalitäten oder eine Naturordnung, die von der Vernunft erkannt, auf Grund der Erfassung ihres theonomen Ursprungs als verpflichtendes Sollen anerkannt und entsprechend angewandt oder befolgt werden. Vielmehr sind diese Ziele ein naturaliter cognitum, etwas, was die menschliche Vernunft auf eine naturhafte Weise und unabhängig von der Erkenntnis eines hinter der Naturordnung stehenden Schöpfergottes erfasst. Das heißt auf eine Weise, die zwar eben "vernünftig" ist, aber nicht jener Vernünftigkeit entspricht, mit der wir über "Mittel zu einem Ziel" beratschlagen, also überlegen, sondern einer Art von Vernünftigkeit, die selbst wiederum "Natur" ist: "Natur" heißt aber jenes, das "auf Eines hin determiniert ist". Es handelt sich hier um einen eigenen Akt des prinzipienerfassenden Intellektes, durch den mit naturhafter Spontaneität oder Unmittelbarkeit all jenes erkannt wird, was für jedes weitere praktische Erkennen Ausgangspunkt und Grundlage bildet. Wir entdecken jetzt also praktische Vernunft insofern sie "Natur "ist, oder die natürliche Vernunft (ratio naturalis) und auch einen entsprechenden Willen "als Natur" (voluntas ut natura)8. (Fs)

234a Gäbe es keine "Vernunft als Natur" oder "naturhafte Vernunft", kein "von Natur aus Vernünftiges", gäbe es also in Vernunft und Vernünftigkeit nichts, was von Natur aus bestimmt und aller nachfolgenden Vernünftigkeit vorgeordnet und dessen Grundlage wäre, so gäbe es überhaupt keine Vernünftigkeit, sondern nur blindes Streben, affektive Konditionierung, soziale Konventionen, internalisierte gesellschaftliche Zwänge, das Recht des Stärkeren, die Macht der Experten; es gäbe keine Autorität, die nicht auch immer Bedrohung der Freiheit wäre; es gäbe keine praktische Wahrheit. Es gäbe keine Unterscheidung zwischen "gut" und "schlecht" außer derjenigen dessen, der die Macht besitzt, diese Unterscheidung gegenüber anderen durchzusetzen. Eine Vernunft ohne "Natur" wäre grundlose, orientierungslose Vernunft. Sie wäre reines Instrument für irgendwelche Zwecke. Wir alle wissen natürlich, das sie dies nicht ist und nicht sein darf. (Fs) (notabene)

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