Autor: Kauffmann, Clemens Buch: Leo Strauss zur Einführung Titel: Leo Strauss zur Einführung Stichwort: das Böse - Liberalismus; Sünde; vertragstheoretische Begründung des Staates Kurzinhalt: Nach Strauss mußte Hobbes die Sünde leugnen, »weil er keine primäre, jedem Anspruch als berechtigtem Anspruch vorangehende Verpflichtung des Menschen anerkannte; vertragstheoretische Begründung des Staates: keine materialen Vorgaben Textausschnitt: Aus s. unten:
Nach Strauss mußte Hobbes die Sünde leugnen, »weil er keine primäre, jedem Anspruch als berechtigtem Anspruch vorangehende Verpflichtung des Menschen anerkannte, weil er den Menschen als von Natur frei, d. h. unverpflichtet verstand«. Die vertragstheoretische Begründung des modernen Staates kann keine materialen Vorgaben akzeptieren, die von der universalen Zustimmung der Vertragspartner unabhängig wären.
Im moralischen Bereich setzt der Liberalismus eben jene Neutralität bereits voraus, die er im Zuge seiner historischen Entfaltung vorantreibt. Bosheit als unschuldige Bosheit zu verstehen führt letztlich zur Auflösung der Unterscheidung von »gut« und »böse« überhaupt.
Der Kern der Neutralisierungen des modernen Liberalismus ist in der Neutralisierung des moralischen Problems zu suchen.
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96A Die Ursprünglichkeit der Tatsache des Politischen hat ebenso wie die Philosophie die Unvollkommenheit oder Bosheit der menschlichen Natur zur Voraussetzung. Nur kommt alles darauf an, wie man »Bosheit« versteht, »als menschliche Minderwertigkeit oder als animalische Kraft«. Es gehört zu den Grundlagen des Liberalismus, die menschliche Bosheit als animalische Kraft zu betrachten, wie auch der unpolitische Hedonismus der Epikureer einen »Animalismus« vertritt. Der Mensch kann nur in Anführungszeichen »böse« sein, so wie ein Tier »böse« ist, das von Hunger und Überlebensangst umgetrieben wird. Der Liberalismus setzt voraus, daß die menschliche Bosheit eine unschuldige Bosheit ist, aus der dem Menschen keine Pflichten erwachsen. Nach Strauss mußte Hobbes die Sünde leugnen, »weil er keine primäre, jedem Anspruch als berechtigtem Anspruch vorangehende Verpflichtung des Menschen anerkannte, weil er den Menschen als von Natur frei, d. h. unverpflichtet verstand«. Die vertragstheoretische Begründung des modernen Staates kann keine materialen Vorgaben akzeptieren, die von der universalen Zustimmung der Vertragspartner unabhängig wären. Denn welchen Sinn hätte ein solcher Vertrag, der nur im nachhinein Bindungen anerkennt, die im vorhinein in der menschlichen Natur begründet wären? Im moralischen Bereich setzt der Liberalismus eben jene Neutralität bereits voraus, die er im Zuge seiner historischen Entfaltung vorantreibt. Bosheit als unschuldige Bosheit zu verstehen führt letztlich zur Auflösung der Unterscheidung von »gut« und »böse« überhaupt. In der moralisch neutralen animalischen Kraft steckt etwas, was bewundert und selbst als Güte aufgefaßt werden kann. Machiavellis Begriff der Tugend zeigt, wie kalkulierte Bosheit als patriotische »virtu« ausgelegt werden kann. Mit der Bosheit verschwindet aber in letzter Konsequenz das Politische überhaupt. Denn Bosheit bedeutet Gefährlichkeit und Mangel, sie zeigt die Bedürftigkeit des Menschen, seine Herrschaftsbedürftigkeit. Für Strauss ergibt sich daher die Aufgabe, »die Auffassung der menschlichen Bosheit als animalischer und darum unschuldiger >Bosheit< rückgängig zu machen und zu der Auffassung der menschlichen Bosheit als moralischer Schlechtigkeit zurückzukehren«. »Die als Herrschaftsbedürftigkeit entdeckte Gefährlichkeit des Menschen kann angemessen nur als moralische Schlechtigkeit verstanden werden. Als solche muß sie zwar anerkannt, kann sie aber nicht bejaht werden.«1 (Fs)
97a Der Kern der Neutralisierungen des modernen Liberalismus ist in der Neutralisierung des moralischen Problems zu suchen. Die Politik erkennt ihr Fundament nicht mehr in der Auseinandersetzung um die Frage »Wie soll ich leben?« Diese Frage wird aus der Öffentlichkeit in den privaten Bereich verwiesen, um den Streit über die Zwecke des menschlichen Lebens stillzustellen. Das ist der Preis, der für den unbedingten Willen zu Verständigung und Frieden zu zahlen ist. Die Preisgabe der politischen Auseinandersetzung um die Zwecke menschlichen Lebens bedeutet die Preisgabe der Menschlichkeit zugunsten einer sekuritätsorientierten Bürgerlichkeit. (Fs) (notabene)
»Verständigung ist aber grundsätzlich immer zu erzielen über die Mittel zu einem schon feststehenden Zweck, während über die Zwecke selbst immer Streit ist: wir streiten miteinander und mit uns selbst immer nur über das Gerechte und das Gute (Piaton, Euthyphron 7 B-D und Phaidros 263 A). Will man daher Verständigung um jeden Preis, so gibt es keinen anderen Weg, als sich der Frage nach dem Richtigen ganz zu entschlagen und sich allein um die Mittel zu kümmern. So wird begreiflich, daß das moderne Europa, nachdem es einmal, um dem Streit über den rechten Glauben zu entgehen, auf die Suche nach einem neutralen Boden als solchem ausgegangen war, schließlich zu dem Glauben an die Technik gelangt ist. [...] Die Verständigung um jeden Preis ist nur möglich als Verständigung auf Kosten des Sinns des menschlichen Lebens; denn sie ist nur möglich, wenn der Mensch darauf verzichtet, die Frage nach dem Richtigen zu stellen; und verzichtet der Mensch auf diese Frage, so verzichtet er darauf, ein Mensch zu sein. Stellt er aber die Frage nach dem Richtigen im Ernst, so entbrennt angesichts >der unentwirrbaren Problematik dieser Frage der Streit, der Streit auf Leben und Tod: im Ernst der Frage nach dem Richtigen hat das Politische - die Freund-Feind-Gruppierung der Menschheit - seinen Rechtsgrund.«
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