Autor: Kauffmann, Clemens Buch: Leo Strauss zur Einführung Titel: Leo Strauss zur Einführung Stichwort: Kultur, liberaler Kulturbegriff, Liberalismuskritik; Kultur - Natur; Kurzinhalt: Die Anthropozentrik des modernen Denkens geht so weit, daß nicht nur die »Kultur«, sondern das menschliche Selbst als ein Produkt des menschlichen Geistes betrachtet wird; Kultur ist immer Kultur der Natur Textausschnitt: 89a Der liberale Kulturbegriff steht im Zentrum der Liberalismuskritik. Schmitt hat sich bewußt die Aufgabe gestellt, das Spezifische des Politischen zu bestimmen. Eine derartige Bestimmung verlangt zunächst die Angabe der übergeordneten Gattung. In der Systematik liberalen Denkens wäre die nächstliegende Antwort auf diese Frage, die Gattung, innerhalb deren das Politische zu bestimmen sei, wäre die »Kultur«. Das Politische selbst wäre dann eine Kulturprovinz, ein neben anderen (moralischen, ästhetischen, ökonomischen) Sachgebieten autonomer Bereich menschlichen Denkens und Handelns. Sowohl Carl Schmitt als auch Leo Strauss halten eine derartige Bestimmung für verfehlt, weil sie die Fundamentalität des Politischen leugnet und der Entpolitisierung des menschlichen Lebens zuarbeitet. Die deshalb notwendig werdende Kritik des Kulturbegriffs setzt bei Strauss allerdings entschieden grundsätzlicher an als bei Schmitt. Er läßt offen, »ob man überhaupt von einem anderen als dem modernen Kulturbegriff in strenger Rede sprechen kann«. Das moderne Kulturverständnis begreift nicht nur die verschiedenen Sachgebiete menschlichen Denkens und Handelns im Verhältnis zueinander als autonom und selbständig, sondern hält die »Kultur« als Ganzes für eine »souveräne Schöpfung« des menschlichen Geistes. Die Anthropozentrik des modernen Denkens geht so weit, daß nicht nur die »Kultur«, sondern das menschliche Selbst als ein Produkt des menschlichen Geistes betrachtet wird. Abgesehen von einigen biologischen und psychologischen Grundmustern werden alle Formen, die dem menschlichen Wollen und Handeln vorangehen, zurückgewiesen. Der Mensch macht sich selbst zu dem, was er ist. Des Menschen bloße Menschlichkeit ist erworben. Das Politische in diesem Sinne als ein Kulturphänomen zu verstehen würde bedeuten, es als das freie Produkt, als eine »Erfindung« des menschlichen Geistes aufzufassen, geradeso wie der neuzeitliche Staat als eine souveräne Konstruktion mechanischer Rationalität in Erscheinung tritt. Es würde weiterhin bedeuten, daß das Politische einen nur begrenzten Geltungsanspruch neben anderen Kulturphänomenen erheben könnte, die ihrerseits auf universale Behauptungen verzichten müßten. (Fs) (notabene)
90A Dem stellt Strauss entgegen, daß »die Tatsache des Politischen« genau wie die Religion eine »ursprüngliche Tatsache« ist, die alle »Kultur« transzendiert. Ihrem Selbstverständnis nach kann die Religion nicht als eine »spontane Erzeugung« des menschlichen Geistes begriffen werden, weil sie als Offenbarungsreligion den Menschen gegeben, und zwar als Gesetz gegeben wurde. Sie kann sich weiterhin nicht mit dem Range einer Kulturprovinz bescheiden, weil sie gemäß ihrem Selbstverständnis die Frage nach der richtigen Lebensweise abschließend und universal gültig beantwortet hat. Der Universalitätsanspruch der Religion hat demnach den zweifachen Sinn eines universalen Anspruchs auf Wahrheit und auf Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz. In gleicher Weise ist die ursprüngliche Tatsache des Politischen kein Sekundärprodukt des menschlichen Geistes, als Tatsache ist sie gleichursprünglich mit der menschlichen Natur gegeben. Politik und Religion sind deshalb »eine Crux der Kulturphilosophie« insgesamt. Indem Strauss die Ursprünglichkeit des Politischen geltend macht, überschreitet er die herrschende Auffassung. (Fs)
»Durch diese Auffassung wird in Vergessenheit gebracht, daß >Kultur< immer etwas voraussetzt, das kultiviert wird: Kultur ist immer Kultur der Natur. Das bedeutet ursprünglich: die Kultur bildet die natürlichen Anlagen aus; sie ist die sorgfältige Pflege der Natur - einerlei ob des Erdbodens oder des menschlichen Geistes -; sie gehorcht eben damit den Anweisungen, welche die Natur selbst gibt. Es kann aber auch bedeuten: durch Gehorsam gegenüber der Natur die Natur besiegen (parendo vincere nach dem Wort Bacons); dann ist die Kultur nicht so sehr treue Pflege der Natur als harter und listiger Kampf wider die Natur. Ob die Kultur als Pflege der Natur oder als Kampf mit der Natur verstanden wird, hängt davon ab, wie die Natur verstanden ist: ob als vorbildliche Ordnung oder als zu beseitigende Unordnung. Wie immer aber die Kultur verstanden wird - in jedem Fall ist >Kultur< Kultur der Natur. >Kultur< ist so sehr Kultur der Natur, daß sie nur dann als souveräne Schöpfung des Geistes verstanden werden kann, wenn die Natur, die kultiviert wird, als Gegensatz des Geistes vorausgesetzt und vergessen worden ist. Da wir nun unter >Kultur< vorzüglich die Kultur der menschlichen Natur verstehen, so ist die Voraussetzung der Kultur vorzüglich die menschliche Natur, und, da der Mensch seiner Natur nach ein animal sociale ist, so ist die der Kultur zugrundeliegende menschliche Natur das natürliche Zusammenleben der Menschen, d. h. die Art und Weise, wie sich der Mensch vor aller Kultur zu den anderen Menschen verhält. Der Terminus für das so verstandene natürliche Zusammenleben heißt: Status naturalis. Man kann also sagen, das Fundament der Kultur ist der Status naturalis.«
91a Dieser Absatz kennzeichnet die Scheidelinie zwischen klassischer und moderner politischer Philosophie, er verweist auf den Horizont, innerhalb dessen die Strausssche Auffassung vom Politischen anzusiedeln ist, und gibt einen Hinweis auf das Programm seiner politischen Philosophie. Die Kritik am Kulturbegriff konzentriert sich auf den Vorwurf, der moderne Rationalismus habe seine eigenen Fundamente vergessen. Die Naturvergessenheit der modernen Kultur ist mitverantwortlich für die Unmenschlichkeit der modernen Politik. Hobbes hatte den »Status naturalis« durch den Status der Zivilisation negieren wollen. Das implizierte die Negation der sozialen, politischen Natur des Menschen zugunsten eines unpolitischen Individualismus, es implizierte die Aufgabe des klassischen Verständnisses von der Natur als einer vorbildlichen Ordnung und den Wandel der Haltung gegenüber der Natur im Sinne der Naturbeherrschung. Was Hobbes mit dem Ideal der Zivilisation, das »der Selbstbehauptung des Menschen gegen die übermächtige Natur« gedient hatte, noch in vollem Bewußtsein dessen, wogegen es sich richtete, in Gang setzte, entwickelte sich im Zuge der fortschreitenden Aufklärung zu dem »höheren« Ideal der Kultur. (Fs)
____________________________
|