Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Die Perspektive der Moral Titel: Die Perspektive der Moral Stichwort: Absolute Handlungsverbote: Töten, Lügen; Handlung: in sich schlecht; intrinsece malum; finis operis - finis operantis Kurzinhalt: Handlung ... die wir als schlecht bezeichnen unabhängig von hinzukommenden weiteren Faktoren bzw. Absichten Textausschnitt: d) Absolute Handlungsverbote. Töten und Lügen
303a Wie bisher ausgeführt wurde, gründen normenutilitaristische und Tugendethik auf zwei grundsätzlich verschiedenen Auffassungen darüber, was menschliches und sittliches Handeln ist. Darauf wird später eingehender zurückzukommen sein (vgl. 4,c und f). Im Zusammenhang der Begründung von Handlungsnormen wird dieser Unterschied jedoch oft gar nicht sichtbar, weil - trotz unterschiedlicher Begründungsstruktur - das Ergebnis dasselbe ist. Es wurde jedoch bereits angedeutet, dass es Fälle gibt, bei denen der Unterschied deutlich zu Tage tritt, nämlich bei den absoluten Handlungsverboten, den ausnahmslos geltenden Verbotsnormen. (Fs)
303b Verbotsnormen besitzen handlungslogisch andere Eigenschaften als Normen, die positiv etwas zu tun gebieten. Als Beispiel seien zwei Normen genannt, die eigentlich identisch sind, aber in ihrer positiven bzw. negativen Formulierung die verschiedene Normierungslogik zu veranschaulichen vermögen: "Man soll immer die Wahrheit sagen!" bedeutet nicht, dass ein Unterlassen der Handlung "Die Wahrheit sagen" schon ein Verstoß gegen die Norm ist; die Norm besagt nur, dass wenn man etwas sagt, dann soll es der Wahrheit entsprechen. Man darf aber auch einfach nichts sagen. Die Norm schreibt also nicht vor, immer und unter allen Umständen die Handlung zu vollziehen, die sie gebietet; man kann sie auch unterlassen. Die Handlungsnormierung positiv formulierter Normen ist also nicht "absolut", d.h. nicht für alle Fälle einschlägig. Sie vermag als Universal-Positives noch nicht, das Handeln in einer konkreten Situation abschließend zu normieren. Eine (negativ formulierte) Verbotsnorm hingegen: "Man soll nicht lügen" (d.h. "man soll nie etwas sagen, was nicht der Wahrheit entspricht!") normiert absolut. Zu unterlassen, was diese Norm vorschreibt, d.h. die von ihr vorgeschrieben Unterlassung (des Lügens) zu "unterlassen" - also die Handlung auszuführen, die sie verbietet - ist in jedem Fall ein Verstoß gegen die Norm. Das Universal-Negative vermag also Praxis in ihrer situationsgebundenen Partikularität abschließend zu normieren, d.h. ausnahmslose Gültigkeit zu besitzen. (Fs) (notabene)
303c Unter einem absoluten Handlungsverbot verstehen wir näherhin eine Norm, die besagt, eine als intentionale Handlung beschreibbare, konkrete Handlungsweise - d.h. ein bestimmter Typ intentionaler Basis-Handlung - sei immer (unter allen Umständen) zu unterlassen, was auch formuliert werden kann mit dem Ausdruck, die betreffende Handlungsweise sei "in sich schlecht". Gebräuchlich ist auch der Ausdruck "innerlich schlecht" (intrinsece malum). Diese etwas zweideutige Formulierung besitzt den Nachteil, dass "innerlich schlecht" eigentlich im Gegensatz zu "äußerlich" oder "von außen her schlecht" (extrinsece malum) steht. So gesehen wäre der Begriff der "innerlich schlechten" Handlung identisch mit demjenigen der Handlung, die schlecht ist, nicht weil sie verboten ist, sondern die verboten ist, weil sie schlecht ist. In diesem Sinne wäre dann aber eigentlich jede sittlich schlechte Handlung auch innerlich schlecht d.h. schlecht aufgrund ihres eigenen unsittlichen Wesens, und nicht - wie linksfahren oder freitags Fleisch essen - nur aufgrund entsprechender bürgerlicher oder kirchlicher Gesetze. So verstanden erweist sich aber der Ausdruck "in sich schlechte Handlungen" für die ethische Analyse als wenig hilfreich und eigentlich überflüssig. (Fs) (notabene)
303d Sinnvollerweise ist mit dem Ausdruck intrinsece malum bzw. den "in sich" schlechten Handlungen eher eine Handlung gemeint, die wir als schlecht bezeichnen unabhängig von hinzukommenden weiteren Faktoren bzw. Absichten. Dies im Unterschied zu einer Handlung, die - um ein klassisches Beispiel zu verwenden - wie Almosengeben für sich betrachtet (und in diesem Sinne eben "in sich") gut ist, aber etwa um eitler Ruhmsucht willen betrieben zusätzlich oder nachträglich zu einer schlechten Handlung wird. In diesem Sinne würde man auch sagen, einen Unschuldigen töten sei schon "in sich" eine schlechte Handlung, unabhängig von weiteren möglichen, sogar löblichen Absichten. (Fs)
304a Irreführend wäre die Ansicht, mit dem Ausdruck "in sich schlechte Handlung" sei gemeint, die betreffende Handlung sei "in sich" im Sinne von "an sich schon, ganz unabhängig vom Willen des Handelnden" schlecht. Denn das "in sich Schlechte" definiert nicht einen Bereich subjektunabhängiger Objektivität, dem dann das subjektive Wollen oder Intendieren entgegengestellt würde (etwa im Sinne der neuzeitlich-scholastischen Unterscheidung zwischen finis operis und finis operantis, "Zweck der Handlung" und "Zweck des Handelnden"). Ohne durch die Vernunft geformte Willensintention kann eine menschliche Handlung gar nicht beschrieben werden. Vielmehr meint die Rede von der "in sich schlechten Handlung", eine Handlung sei bereits auf der Ebene der in ihr implizierten Basis-Intentionalität schlecht, unabhängig von weiter dazukommenden Absichten. (Fs) (notabene)
304b Warum aber ist das überhaupt so wichtig? Es ist wichtig, weil es bedeutet, dass es möglich ist, zumindest einige Handlungen bzw. Handlungsweisen abschließend zu beschreiben, die durch weitere Absichten nicht um-definiert bzw. neu-beschrieben werden können, dass also in solchen Fällen das Handlungsobjekt gegenüber weiteren, dazukommenden Absichten bzw. Folgenabschätzungen und entsprechende Erwartungen gleichsam resistent ist. Dies entspricht der von G. Patzig beschriebenen Common Sense-Intuition, "dass wir uns über weite Strecken in vollem Einklang mit der utilitaristischen Doktrin bewegen. Wir überlegen uns, was wohl bei einer bestimmten Handlungsweise herauskommen muss, und wenn uns das bedrohlich und unerfreulich scheint, so halten wir eine solche Verhaltensweise für moralisch unzulässig. (...) Trotzdem sind wir der Meinung, dass gewisse Handlungen auch ohne jede Berücksichtigung ihrer möglichen Folgen moralisch schlecht sind"1. Dieser Intuition kann man aber nur gerecht werden, wenn man annimmt, dass es Handlungsobjekte gibt, die gegen ein "Um-Definieren" und eine entsprechenden Neu-Beschreibung ihrer moralischen Identität durch weitere, hinzukommende löbliche Absichten bzw. das Voraussehen unerwünschter Folgen resistent bleiben. (Fs)
304c In seiner Aufzählung einiger "Laster der Tugendethik" nennt Robert Louden auch die Unfähigkeit der von ihm kritisch beleuchteten Tugendethik, "gewisse Handlungen auszuzeichnen, die absolut verboten sind", also Handlungsverbote zu begründen, "die ganz klar die Grenzen aufzeigen in Bereichen wie dem Töten Unschuldiger, sexuellen Beziehungen und der Rechtsprechung gemäß den jeweiligen Gesetzen und Bräuchen". Dabei sei an Handlungen zu denken, "die einen derartig großen Schaden anrichten können, dass sie den Zusammenhalt der Gesellschaft zerstören und es (zumindest zeitweise) verhindern, moralisch Gutes zu erreichen." Es geht hier also nicht nur um "schlechte", sondern um "unerträgliche" Handlungen ("intolerable actions")1. Es mag zutreffen, das gewisse Formen heutiger virtue ethics solche absoluten Handlungsverbote nicht zu begründen vermögen, da sie die Richtigkeit von Handlungen einseitig von der Motivationsstruktur des Handelnden her und nicht auf Grund der Charakteristik der Handlung selbst zu bestimmen suchen. Für klassische Tugendethik trifft das jedoch nicht zu. Aristoteles spricht sogar explizit von Handlungen, die unabhängig von ihren Umständen in sich schon schlecht sind2. Im Gegenzug zu Loudens Ansicht muss sogar gesagt werden (vgl. auch oben IV, b 2), dass gerade eine Tugendethik klassischen Zuschnitts die Existenz solcher absoluten Handlungsverbote zu begründen vermag, einer Normen- oder regelorientierten Ethik dies jedoch höchstens im Sinne der Begründung einer "prima facie"-Geltung solcher Handlungsverbote gelingen kann. Denn moralische Normen sind sprachliche Universalien; sie beziehen sich auf Handlungstypen, auf Klassen von Handlungen mit gleichen Eigenschaften. In einer auf dem Phänomen der "Norm" aufgebauten Ethik bezieht sich, gleich allen Normen, auch eine Verbotsnorm lediglich auf entsprechend typische Fälle. Umstände und Folgen, die bei der Formulierung der Norm nicht berücksichtigt wurden, können dann in einem nachfolgenden "Anwendungsdiskurs" die Absolutheit einer Verbotsnorm relativiern3. Damit ein Handlungsverbot wirklich "absolut" gilt und damit resistent gegenüber sie relativierenden Anwendungsdiskursen ist, muss ein solches Verbot bzw. eine universale Verbotsnorm als auf moralische Prinzipien bezogen begriffen werden, die wiederum auf ein "von Natur aus Vernünftiges" rückverweisen; d.h. sie sind als Ausdruck eines Widerspruchs oder der Inkompatibilität mit den Zielen bestimmter Tugenden, die jeweils einen spezifischen "ethischen Kontext" definieren, zu verstehen und nicht, wie in einer "Normenethik", einfach als Widerspruch zu einer durch typische Merkmale definierten Klasse von Handlungen4. Inkompatibilität einer konkreten Handlungsweise mit sittlichen Prinzipien, welche die Zielstruktur einer Tugend und damit einen spezifischen ethischen Kontext ausdrücken, begründet, dass eine Handlungsweise nicht nur "prima facie", sondern in allen Fällen zu unterlassen ist, weil auch eventuell "später" hinzukommende Gesichtspunkte, Umstände oder Folgenabschätzungen, nichts daran ändern, dass diese intentionale Inkompatibilität mit dem Ziel einer oder mehrerer Tugenden weiter besteht. Was sich hingegen durch "später" hinzukommende Gesichtspunkte ändern kann, ist nicht die Geltung des Unterlassungsgebotes, sondern das, was nun die veränderte Situation anstelle der zu unterlassenden Handlung zu tun erfordert. (Fs) (notabene)
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