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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Kant: Sollen - das Gute; Kant verkehrt das Ursprüngliche mit dem Bedingten

Kurzinhalt: Existiert die rein formale Erfahrung des "Ich soll"; tritt eine solche Erfahrung nicht immer auf als: "Ich soll dieses", bzw.: "Das ist gut"

Textausschnitt: 2.3.2 Sollenserfahrung und die Erkenntnis des Guten

175d Was ist nun aber dieses "Sollen"? Können wir es, wie Kant dies tut, sowohl in der praktischen Erfahrung wie auch in der Reflexion vom Begriff des "Guten" ablösen? In der von Thomas gebrauchten Formulierung des ersten Prinzips der praktischen Vernunft ist das "Sollen" ja an die unmittelbare praktische Erfahrung des Guten zurückgebunden ("bonum prosquendum, malum vitandum est"); gibt es überhaupt eine Erfahrung des Sollens ohne die Erfahrung, und das heißt: ohne eine praktische Erkenntnis des Guten? Existiert die rein formale Erfahrung des "Ich soll"; tritt eine solche Erfahrung nicht immer auf als: "Ich soll dieses", bzw.: "Das ist gut". Wir haben im ersten Teil analysiert, daß die Erfahrung des "Sollens" als Sollen, wie auch jene der Pflicht, der Norm etc. erst in der Reflexion über die Erfahrung der praktischen Vernunft auftritt. Das Sollen und die Pflicht sind durch unmittelbar praktische Einsicht in das Gute bedingt. Die personale Autonomie verwirklicht sich nicht, wie Kant denkt, weil man etwas tut, nur weil man es soll, und sonst aus keinem anderen Grund, also aus reiner Pflicht. Kant verkehrt das Ursprüngliche mit dem Bedingten. Personale Autonomie verwirklicht sich vielmehr, wenn man etwas tut, weil man es als gut erkannt hat; und deshalb "soll" man es. Thomas hat diese Verwirklichung personaler Autonomie prägnant folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: "(...) Frei ist, wer über sich selbst verfügt (qui est causa sui): der Sklave untersteht der Verfügungsgewalt seines Herrn (est causa domini): wer immer also aus sich selbst heraus (ex seipso) handelt, der handelt frei; wer hingegen durch einen anderen bewegt (ex alio motus) handelt, der handelt nicht frei. Derjenige also, der das Schlechte nicht deshalb meidet, weil es schlecht ist1, sondern weil Gott es so gebietet, der ist nicht frei; aber derjenige, der das Schlechte meidet, weil es schlecht ist, der ist frei".2 (Fs) (notabene)

176a Sobald man den Begriff des "Guten" ins Spiel bringt, was Kant sorgsam vermeidet und was auch die methodologische Brüchigkeit seines Ansatzes erweist, stellen sich neue Fragen: Die Frage nach der praktischen Einsicht in das Gute; nach den Bedingungen der Erkenntnis des wahrhaft Guten im Unterschied zum nur scheinbar Guten (das aristotelische phainomenen agathon). Das Gute kann nicht mehr durch einen transzendentalen Formalismus kantischer Prägung rekonstruiert werden; auch nicht durch eine Ideen- oder Wertlehre platonischer Prägung. Man muß nur die aristotelischen Ausführungen über die Unbrauchbarkeit solcher Formalismen für die philosophische Ethik einmal nachlesen, um sich bewußt zu werden, daß Kant in seinem ethischen Ansatz - in bestimmter Hinsicht - in eine vor-aristotelische Position zurückfällt. (Fs)

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