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Autor: Kriele, Martin

Buch: Einführung in die Staatslehre

Titel: Einführung in die Staatslehre

Stichwort: Liberalismus - Relativismus; Ermächtigungsgesetz; Ordnungsliberalismus - laissez faire Liberalismus; Neigung zum Recht des Stärkeren

Kurzinhalt: Der Relativismus galt unter Weimarer Liberalen als die philosophische Grundlage der Demokratie. Relativismus besagt in einer Kurzformel: ...;

Textausschnitt: 294b Das heikelste Problem aber ist das des deutschen Liberalismus. Wir müssen eine Erklärung für zwei historische Tatsachen suchen: Erstens: Die deutschen Liberalen1 verloren in den Jahren vor Hitler's Wahlerfolgen nicht weniger als 6/7 ihrer Wähler. Während die Zahl der Hitler-Wähler zwischen den Reichstagswahlen von 1928 und März 1933 von 810.000 auf 17,3 Millionen anstieg, sank die Zahl der liberalen Wähler von 5,5 Millionen auf 766.000, also auf rund 1/7. Nicht alle der verloren gegangenen Wähler mögen unmittelbar die NSDAP gewählt haben, manche haben vielleicht Wählerverluste anderer Parteien ausgeglichen. Trotzdem ist die Feststellung unabweisbar, dass die ursprünglich liberalen Wähler offenkundig ein beträchtliches Wählerreservoir für die Nazis gestellt haben.2 (Fs)

295a Zweitens stimmten die übrig gebliebenen liberalen Abgeordneten des Reichstags dem Ermächtigungsgesetz geschlossen zu. Selbst aus den Reihen derer, die sich bis dahin als loyale Mitglieder der Weimarer Koalition bewährt hatten, gab es weder Widerspruch noch eine einzige Nein-Stimme. Im Unterschied zu den Deutschnationalen und zum Zentrum hatten die Liberalen kein erkennbares Motiv für ihre Zustimmung. Sie forderten nichts und erhielten nichts. Sie hatten nichts zu hoffen, sondern mussten sich als Partei auflösen und taten dies widerstandslos. (Fs)

295b Wie sind diese historischen Tatsachen zu erklären? Weshalb verhielt sich der deutsche Liberale in einer Weise, die einem englischen, schwedischen, holländischen oder Schweizer Liberalen nie in den Sinn gekommen wäre?
[...]

295d Der Relativismus galt unter Weimarer Liberalen als die philosophische Grundlage der Demokratie.1 Relativismus besagt in einer Kurzformel: Alle politischen und sozialen Anschauungen seien subjektiv und insofern relativ. Wenn jeder die Relativität seiner politischen Anschauung einsehe, werde er für seine Anschauungen keinen Absolutheitsanspruch erheben und die anderen Anschauungen als gleichberechtigt respektieren und tolerieren. Diese Selbstbescheidung mache Freiheit und Demokratie möglich. Dieser Relativismus hat freilich eine logische Konsequenz, die hätte bedacht werden müssen. Wenn alle Anschauungen relativ sind, dann sind auch die Ideen von Freiheit und Demokratie relativ und haben kein größeres Recht als die Ideen, die Freiheit und Demokratie abschaffen wollen. Alles, was man dann gegen die Feinde von Freiheit und Demokratie tun kann, ist, sie durch Belehrung und moralische Appelle zur Selbstbescheidung zu überreden.2 Überzeugt sie das nicht, so haben sie das Recht auf Beseitigung von Freiheit und Demokratie. (Fs) (notabene)

295e Diese Konsequenz wurde von den liberalen Staatsrechtlern ausdrücklich gezogen und zur herrschenden Auslegung der Weimarer Verfassung gemacht. Es lief auf die Lehre hinaus, dass das Volk mit Mehrheit die mehrheitsorientierte Demokratie abschaffen könne. Der damals maßgebliche Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung von Anschütz zählte auf, was die Mehrheit alles legal ändern könne, u.a. »die Staats- und Regierungsform (Republik, Demokratie, Wahlrecht, Parlamentarismus) und andere prinzipielle Fragen einschließlich der Grundrechte«3. Thoma sekundierte Anschütz im Handbuch des deutschen Staatsrechts: »Unmöglich ... aber kann das, was die entschiedene und unzweifelhafte Mehrheit des Volkes auf legalem Wege beschließt (und stürzte es selbst die Grundsäulen der gegenwärtigen Verfassung um), als Staatsstreich oder Rebellion angesehen werden.«4 Thoma fügte hinzu, dies sei eine »vielleicht gewagte, aber in ihrer Folgerichtigkeit großartige Erfassung der Idee der freien demokratischen Selbstbestimmung«.5 Was Thoma so großartig fand, war das Recht auf die irreversible Selbstaufhebung der freien demokratischen Selbstbestimmung. (Fs)

[...]

296d Wie konnte sich ein Liberaler dazu stellen? Ein Ordnungsliberaler hätte den Nationalsozialisten das Recht bestritten, andere ihrer Rechte zu berauben. Er hätte die Demokratie mit angemessenen Mitteln der Staatsgewalt verteidigt, weil er dem Recht auf Freiheit absoluten Geltungsanspruch zuerkannt hätte. Da die deutschen Liberalen aber Relativisten waren und auch der Freiheit selbst keinen absoluten Geltungsanspruch zuerkennen wollten, tolerierten sie Hitler's Intoleranz. Sie weigerten sich anzuerkennen, dass die Freiheit des einen durch das gleiche Recht der anderen auf Freiheit begrenzt ist und dass diese Begrenzung nicht durch die individuelle Gesinnung, sondern durch den freiheitlich-demokratischen Staat garantiert wird. Die deutschen Liberalen hatten einen moralischen, aber keinen politischen Willen. Sie setzten auf die Gesinnung, nicht auf die Institutionen. Das erklärt ihre passive Duldung der nationalsozialistischen Machtergreifung. (Fs)
297a Wie aber erklärt sich, dass sie die unumschränkte Macht nicht nur geduldet, sondern aktiv mit herbeigeführt haben? Die Antwort ist: Ohne einen eigenen politischen Willen setzt sich die natürliche psychologische Neigung durch, zu verstärken, was ohnehin geschieht. Das aber heißt, den jeweils Stärksten zu unterstützen. Hinter dem laissez-faire des freien Spiels der Kräfte verbirgt sich letztlich die Philosophie vom Recht des Stärkeren. So wie im ungehemmten wirtschaftlichen Wettbewerb die stärkste wirtschaftliche Macht das Monopol erringen kann, so auch im freien Spiel der politischen Kräfte. (Fs) (notabene)
297b Das Recht des Stärkeren ist der Gegensatz zum Rechtsprinzip. Das Rechtsprinzip fordert, dass allgemein verbindliche Rechtsnormen die Freiheit so beschränken, dass die Freiheit des einen mit der Freiheit jedes anderen zusammen bestehen kann. Gilt das Rechtsprinzip nicht absolut, so heißt das: Der Stärkere darf den Schwächeren seiner Willkür unterwerfen. Entweder gilt das Rechtsprinzip oder das Recht des Stärkeren - eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Die relativistischen Liberalen wollten dieser Konsequenz ausweichen, nämlich das Rechtsprinzip und das Recht des Stärkeren auf die gleiche Stufe stellen und beide für gleichberechtigt erklären. Doch das läuft praktisch auf Unterstützung des Rechts des Stärkeren hinaus. Denn das Recht des Stärkeren ist das biologisch Natürliche: Die großen Fische fressen die kleinen. Hitler stützte seinen Anspruch, alle anderen einschließlich der Liberalen seiner Willkür zu unterwerfen, ausdrücklich auf biologische Beispiele. Der Relativismus bedeutete nicht Neutralität zwischen zwei gleichberechtigten Prinzipien, sondern Neutralität zwischen Geist und Natur, zwischen Kultur und Barbarei, zwischen dem moralisch begründeten Grundsatz, dass jeder Mensch gleichen Anspruch auf Freiheit und Würde hat, und der moralisch blinden Durchsetzungstendenz des Machttriebs - und bei solcher Neutralität muss das Recht gegen die Macht verlieren. (Fs)

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