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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Gewissen; conscientia (Thomas)

Kurzinhalt: Weil zum Beispiel Thomas nur diese zweite Ebene als Conscientia bezeichnet, ist folgerichtig für ihn das Gewissen kein "habitus", das heißt keine dauernde seinshafte Qualität des Menschen, sondern "actus" - ein Geschehen im Vollzug

Textausschnitt: 118b Nach diesen Erwägungen über die erste - wesentlich ontologische - Ebene des Gewissensbegriffs müssen wir uns nun dessen zweiter Schicht zuwenden, die in der mittelalterlichen Tradition allein mit dem Wort Conscientia - Gewissen - bezeichnet wird. Vermutlich hat diese terminologische Tradition nicht unerheblich zur neuzeitlichen Schrumpfung des Gewissensbegriffs beigetragen. Weil zum Beispiel Thomas nur diese zweite Ebene als Conscientia bezeichnet, ist folgerichtig für ihn das Gewissen kein "habitus", das heißt keine dauernde seinshafte Qualität des Menschen, sondern "actus" - ein Geschehen im Vollzug. Thomas setzt aber dabei selbstverständlich die ontologische Grundlage der Anamnese (Synderesis) als gegeben voraus; er beschreibt diese letzte als ein inneres Widersprechen gegen das Böse und eine innere Zugeordnetheit zum Guten in uns. Der Gewissensakt wendet dieses Grundwissen in den einzelnen Situationen an. Er gliedert sich nach Thomas in drei Elemente: Das Wiedererkennen (recognoscere), das Zeugnisablegen (testificari) und schließlich das Urteilen (iudicare). Man könnte von einem Zusammenspiel zwischen Kontrollfunktion und Entscheidungsfunktion sprechen1. Thomas sieht diesen Vorgang von der aristotelischen Tradition her im Modell eines Schlussverfahrens. Aber er betont sehr nachdrücklich das Spezifische dieses Handlungswissens, dessen Schlussfolgerungen nicht aus bloßem Wissen oder Denken kommen2. (Fs)

119a Ob hier etwas erkannt oder nicht erkannt wird, hängt immer auch vom Willen ab, der Erkenntnis versperrt oder zur Erkenntnis führt. Es hängt also von einer schon gegebenen moralischen Prägung ab, die dann entweder weiter verformt oder weiter gereinigt wird3. (Fs)

119b Auf dieser Ebene, der Ebene des Urteilens (Conscientia im engeren Sinn), gilt, dass auch das irrige Gewissen bindet. Dieser Satz ist aus der rationalen Tradition der Scholastik heraus völlig klar. Niemand darf gegen seine Überzeugung handeln, wie es schon der hl. Paulus gesagt hatte (Rom 14, 23)4. Aber dass die gewonnene Überzeugung selbstverständlich im Augenblick des Handelns bindet, bedeutet keine Kanonisierung der Subjektivität. Es ist nie Schuld, der gewonnenen Überzeugung zu folgen - man muss es sogar. Aber es kann sehr wohl Schuld sein, dass man zu so verkehrten Überzeugungen gelangt ist und den Widerspruch der Anamnese des Seins niedergetreten hat. Die Schuld liegt dann woanders, tiefer: nicht in dem jetzigen Akt, nicht in dem jetzigen Gewissensurteil, sondern in der Verwahrlosung meines Seins, die mich stumpf gemacht hat für die Stimme der Wahrheit und deren Zuspruch in meinem Innern. Deshalb bleiben Überzeugungstäter wie Hitler und Stalin schuldig. Diese krassen Exempel sollen aber nicht dazu dienen, uns über uns selbst zu beruhigen, sondern sie sollten uns aufschrecken und uns den Ernst der Bitte eindrücklich machen: Von meiner unerkannten Schuld befreie mich (Ps 19,13). (Fs) (notabene)

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