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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Gewissen; Sokrates als Prophet Jesu Christi; Nachahmung eines Götzen und nicht Vollzug der Gottebenbildlichkeit; Märtyrer als Zeugen des Gewissens

Kurzinhalt: Wo die Inhalte nicht mehr zählen, wo die reine Praxeologie die Herrschaft übernimmt, wird das Können zum obersten Kriterium. Das aber bedeutet: Die Macht wird zur alles beherrschenden Kategorie

Textausschnitt: 112b An dieser Stelle wird die ganze Radikalität des heutigen Disputs um die Ethik und um ihr Zentrum, das Gewissen, sichtbar. Mir scheint, dass ihre eigentliche geistesgeschichtliche Parallele der Streit zwischen Sokrates - Platon und den Sophisten sei, in dem der Urentscheid zwischen zwei Grundhaltungen durchgeprobt worden ist: dem Vertrauen auf die Wahrheitsfähigkeit des Menschen einerseits und einer Weltsicht andererseits, in der nur der Mensch sich selbst seine Maßstäbe schafft1. (Fs) (notabene)

113a Dass Sokrates, der Heide, in gewisser Hinsicht zum Propheten Jesu Christi werden konnte, liegt meiner Überzeugung nach in dieser Urfrage begründet: Ihr Aufnehmen ist es, das der von ihm inspirierten Weise des Philosophierens sozusagen ein heilsgeschichtliches Privileg gegeben hat und sie als Gefäß für den christlichen Logos geeignet machte, bei dem es um Befreiung durch Wahrheit und zur Wahrheit geht. Wenn man den Streit des Sokrates aus den Zufälligkeiten der Zeitgeschichte löst, wird man schnell erkennen, wie sehr er - mit anderen Argumenten und mit anderen Namen - in der Sache der Streit der Gegenwart ist. Die Resignation gegenüber der Wahrheitsfähigkeit des Menschen führt zunächst zu einem rein formalistischen Gebrauch von Worten und Begriffen. Das Ausfallen der Inhalte wiederum führt zu einem reinen Formalismus des Urteilens, damals wie heute. Man fragt heute vielerorts nicht mehr, was ein Mensch denkt. Man hat das Urteil über sein Denken schon in der Hand, wenn man es einer entsprechenden formalen Kategorie zuordnen kann: konservativ, reaktionär, fundamentalistisch, progressiv, revolutionär. Die Zuordnung zu einem formalen Schema genügt, um die Auseinandersetzung mit dem Inhalt unnötig zu machen. Das Gleiche zeigt sich verstärkt in der Kunst: Was sie aussagt, ist gleichgültig; sie kann Gott oder den Teufel verherrlichen - der einzige Maßstab ist ihr formales Gekonntsein. (Fs)

113b Hier sind wir am eigentlichen Brennpunkt angelangt: Wo die Inhalte nicht mehr zählen, wo die reine Praxeologie die Herrschaft übernimmt, wird das Können zum obersten Kriterium. Das aber bedeutet: Die Macht wird zur alles beherrschenden Kategorie - revolutionär oder reaktionär. Dies ist genau die perverse Form von Gottähnlichkeit, von der die Sündenfallsgeschichte spricht: Der Weg des bloßen Könnens, der Weg der reinen Macht ist Nachahmung eines Götzen und nicht Vollzug der Gottebenbildlichkeit. Das Kennzeichen des Menschen als Menschen ist es, dass er nicht nach dem Können, sondern nach dem Sollen fragt und dass er sich die Stimme der Wahrheit und ihres Anspruchs öffnet. Dies war, wie mir scheint, der letzte Inhalt des sokratischen Ringens, und es ist der tiefste Inhalt im Zeugnis aller Märtyrer: Sie stehen ein für die Wahrheitsfähigkeit des Menschen als Grenze aller Macht und als Gewähr seiner Gottähnlichkeit. Gerade so sind die Märtyrer die großen Zeugen des Gewissens, der dem Menschen verliehenen Fähigkeit über das Können hinaus das Sollen zu vernehmen und damit wirklichen Fortschritt, wirklichen Aufstieg zu eröffnen. (Fs) (notabene)

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