Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Natur als Grundlage der Moral Titel: Natur als Grundlage der Moral Stichwort: Unterschied: forma substantialis - recta ratio; forma naturalis" (genus naturae) - "forma a ratione concepta"; "ordo naturalis" - "ordo rationis" Kurzinhalt: [...] nicht aber um zu behaupten, die "forma substantialis" - also die natürliche "Wesensform" des Menschen - sei der Maßstab der "bonitas" einer "operatio" Textausschnitt: 60b Aufgrund dieser Formulierung wird einsichtig, daß Thomas den Rekurs auf die Seele, die "forma substantialis", - ebenso wie Aristoteles - lediglich dazu benutzt, um das Formprinzip menschlicher, d. h. sittlicher Handlungen zu bestimmen, nicht aber um zu behaupten, die "forma substantialis" - also die natürliche "Wesensform" des Menschen - sei der Maßstab der "bonitas" einer "operatio". Der Verweis auf die Seele dient vielmehr dazu, das Kriterium für die Auffindung dieses Maßstabes aufzuzeigen; dieser kann nun als die ratio, und zwar als die "ratio recta" angegeben werden.1 (Fs) (notabene)
60c Der Begriff recta ratio ist nicht ein anderer Terminus für die "forma substantialis", sondern bezeichnet die "rectitudo" eines Seelenvermögens, bzw. seiner Akte. Maßstab ist das diese "rectitudo" (praktische Wahrheit) besitzende Urteil der Vernunft, ein "dictamen rationis rectae".2 Andernfalls wäre es unverständlich, weshalb Thomas in dem angeführten Text von einer "perversitas rationis" spricht, die nicht nur der "recta ratio", sondern, wie es hier heißt, auch der Natur der Vernunft widerspreche. Eine solche Verderbtheit kann nur dem Vermögen und seinem Akt zukommen, und selbstverständlich nicht der "forma substantialis". (Fs) (notabene)
60d Daß dem vorliegendem Text tatsächlich dieser Sinn zuzusprechen ist, bestätigt Thomas selbst durch den Hinweis, daß die "recta ratio" einer dianoetischen Tugend - der Klugheit - entspreche, wovon im sechsten Buch die Rede sein werde.3 Damit ist die normative Aufgabe der Vernunft begründet: "Der Unterschied von Gut und Böse im moralischen Sinne kann demnach nur spezifisch sein, wenn er sich im Hinblick auf das Prinzip der menschlichen Akte ergibt, und dieses Prinzip ist die Vernunft"4, - und nicht die Wesensnatur" oder die "natura metaphysica". (Fs) (notabene)
61a Durch eine Reflexion im Lichte der Metaphysik des Handelns ist jetzt begründet, was die praktische Vernunft in ihrem eigenen Vollzug bereits schon selbst erfahren hat. Denn damit die praktische Vernunft (d. h. die praktisch urteilende Person) sich ihrer maßgebenden Funktion bewußt wird und diese auch ausübt, bedarf sie ja nicht zuvor einer metaphysischen Ableitung dieser Funktion. Das wäre absurd, weil sittlich-praktische Erkenntnis dann den Fachphilosophen vorbehalten wäre. Die Möglichkeit sittlich-praktischer Erkenntnis wird nicht durch Metaphysik begründet, sondern durch das natürliche Licht der "ratio naturalis".5 Die reflektive Begründung - demonstratio - der maßverleihenden Funktion der Vernunft durch den Rekurs auf die "forma substantialis" - die menschliche Seele - entspricht einer nachfolgenden Reflexion im Sinne der "reditio completa". (Fs) (notabene)
61b Diese Überlegungen sind wichtig für eine sinngerechte Interpretation von I - II, q.18, a.5. Wenn hier Thomas schreibt: "Patet ergo quod differentia boni et mali circa obiectum considerata, comparatur per se ad rationem: scilicet secundum quod obiectum est ei conveniens vel non conveniens", so ist hier als terminus ad quem der Konvenienz gerade nicht die Natur der Seele gemeint; diese letztere ist nur die Grundlage für den Nachweis, daß die Vernunft selbst dieser "terminus" ist; die moralische Spezifizierung von Objekten erfolgt im Hinblick auf die Vernunft und ihre praktischen Urteile. (Fs)
61c Nicht zu vergessen ist, was Thomas kurz zuvor bereits dargelegt hat: In gleicher Weise, wie die "forma" einem Naturding die "species" verleiht, so konstituiert das Objekt die "species" einer Handlung.6 Das Objekt ist also die "Form" der Handlung, und ist als solche eine conceptio rationis: "So wie die Spezies der Naturdinge aus natürlichen Formen entstehen, so entstehen die Spezies der sittlichen Handlungen aus Formprinzipien, wie sie durch die Vernunft erfaßt sind."7 Thomas unterscheidet damit deutlich die "forma naturalis", die als substantielle Form ein Seiendes innerhalb eines bestimmten "modus essendi" konstituiert, von einer "forma ratione concepta": diese ist nichts anderes als das Objekt, das einer Handlung seine "species moralis", letztlich die "bonitas" oder die "malitia" verleiht.64 (Fs) (notabene)
62a Diese Ausführungen erheben nicht den Anspruch, irgend etwas Neues oder noch nicht Gesehenes vorzubringen. Hätte man in den letzten fünfzig Jahren etwa die damals wie heute wichtigen und, abgesehen von zeitbedingter Polemik, unüberholten Ausführungen von L. Lehu ernster genommen und sie nicht durch Festhalten an Schultraditionen "neutralisiert", so hätte das sicher wohltuende Wirkungen bezüglich des Verständnisses der thomistischen Lehre über die Objektivität des sittlichen Handelns und die "lex naturalis" gehabt. Die immer wiederkehrende Verwechslung und Vermengung zwischen den Ebenen der "forma naturalis" (genus naturae) und der "forma a ratione concepta", das Objekt auf der Ebene des "genus moris", sowie zwischen "ordo naturalis" und "ordo rationis", wie das im Rahmen einer zum Naturalismus tendierenden Thomasinterpretation geläufig war, hat schließlich gerade bezüglich der Lehre von der "lex naturalis" zu zweifelhaften Interpretationsansätzen geführt. Eine diesbezügliche Verwirrung scheint oftmals noch immer nicht überwunden zu sein, und zwar auch bei Autoren, die sich heute um eine "Neuinterpretation" thomistischer Texte bemühen. (Fs) ____________________________
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