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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Natur als Grundlage der Moral

Titel: Natur als Grundlage der Moral

Stichwort: Die "appetitive" Bedingtheit der praktischen Vernunft; nihil volitum nisi praecognitum; naturaliter appetibile; inclinatio naturalis

Kurzinhalt: Der praktische Intellekt ist das in diese intentionale Struktur des Erstrebens und Tuns des praktischen Guten eingebettete Licht, das ermöglicht, das wahrhaft Gute vom nur scheinbar Guten zu unterscheiden

Textausschnitt: 46a Somit scheint klar zu sein, daß auch für Thomas der Akt der praktischen Vernunft - praktische Urteile - nicht durch ein Wollen des theoretisch Erkannten oder ein extensives Praktischwerden theoretischer Urteile entsteht. Vielmehr besitzt der praktische Intellekt von Anfang an ein anderes Verhältnis zum Streben, ist in dieses eingebettet und von ihm abhängig. Das appetibile, Prinzip ("primum consideratum") des praktischen Intellektes, ist nicht irgend ein Gut, sondern ein praktisches Gut. Praktische Güter sind nicht solche, die in der Notwendigkeit der Struktur des Seienden bereits als "Gegebenheiten" auftreten oder "Dinge", die man erstrebt oder im Handeln berücksichtigt.1 Sie unterliegen vielmehr der Kontingenz des Handelns und damit des Strebens. Für den Dieb ist ja nicht das Geld das "praktische Gut", das er verfolgt, sondern der Besitz dieses Geldes, oder aber der Gebrauch desselben. Das Geld als solches ist kein praktischer Gegenstand; es existiert unabhängig von allem Handeln; sein Besitz oder seine Verwendung jedoch wird erst durch Handeln erreicht; und damit es zu einem Gegenstand des Handelns wird, dazu bedarf es eines von der praktischen Vernunft organisierten Strebens, eines Strebens, das sich auf Grund des praktischen Urteils formiert: "Das, - d. h. nicht das Geld, sondern der Besitz oder die Verwendung dieses Geldes -, ist gut". (Fs)

47a Das notwendig Seiende ist gewollt (geliebt), insofern es ist. Ein Willensakt, der sich auf den Inhalt eines Banktresors richtet, ist als solcher praktisch irrelevant, bzw. undefiniert. Er kann ja auch bloße Anerkennung oder Mitfreude über den Besitz oder den Erfolg des Anderen beinhalten. Praktische Güter "sind" nur, insofern sie erstrebt, gewollt, geliebt werden, und sie sind dies jeweils aufgrund eines praktischen Urteils der Vernunft; deshalb können sie so oder anders sein; sie können auch nicht sein; und insofern sind sie kontingent. Kontingent sind sie auch, weil ihr Modus der Verwirklichung im konkreten Handeln vielfältig und je wieder anders ist.2 Der praktische Intellekt ist das in diese intentionale Struktur des Erstrebens und Tuns des praktischen Guten eingebettete Licht, das ermöglicht, das wahrhaft Gute vom nur scheinbar Guten zu unterscheiden - die spezifische Leistung intellektueller "speculatio" - und es bis auf die Stufe der konkreten Handlungswahl (electio) zu bestimmen.3 (Fs) (notabene)

47b Damit ist keineswegs das Prinzip "nihil volitum nisi praecognitum" durchbrochen. Das eigentlich praktische Streben (die Intention und die von ihr abhängige und sie konkretisierende "electio") beruht immer auf einem Urteil der praktischen Vernunft. Und der erste Erkenntnisakt erhält seine Information aus einer ihm gegenständlichen Wirklichkeit, einer "res".1 Diese Wirklichkeit ist jeweils ein dem Intellekt vorgegebenes, insofern natürliches Feld seiner "apprehensio". Im Falle theoretischer Erkenntnis handelt es sich um den Gegenstandsbereich des Seienden; im Falle praktischer Erkenntnis ist das "primum consideratum" ein "appetibile", das als erstes ein naturaliter appetibile sein muß, dem eine natürliche Neigung (inclinatio naturalis) entspricht. (Fs) (notabene)


47c Das Objekt der "inclinatio naturalis" ist von Anfang an praktisch (ein Ziel), das in einem Akt der "natürlichen Vernunft" ein naturaliter cognitum darstellt und als solches als praktisches Gut und "bonum humanum" erfaßt wird.1 Dieser ursprüngliche Akt der "ratio naturalis" ist Ausgangspunkt aller praktischen Urteile. Diese sind ebensowenig aus Urteilen metaphysischer Theorie ableitbar oder rekonstruierbar, wie die ersten Prinzipien der praktischen Vernunft aus den ersten Prinzipien der theoretischen Vernunft ableitbar sind. Beide besitzen den Charakter der Ursprünglichkeit und sind sozusagen "eigenen Rechts". (Fs)

47d Dabei zeigt sich wiederum, daß auch der praktische Intellekt seinen grundlegend spekulativen Charakter eines intellektiven "lumen" nicht verliert. Nur führt die spekulative (intellektive) "apprehensio", die auf ein "appetibile" gerichtet ist, zu einem praktischen Urteil. Die ursprüngliche "speculatio" ist durch die appetitive Bedingtheit dieser Art von "apprehensio" in der intentionalen Dynamik des Strebens ("inclinatio naturalis" - "inten-tio" - "electio") integriert: es hat eine "extensio" auf das "operabile" stattgefunden. (Fs)

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