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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Lüge; "gerechtfertigte" Falschaussage; Beachtung des jeweiligen Kontexts

Kurzinhalt: Innerhalb dieses ethischen Kontextes gibt es demnach keine Kontingenz der Handlungsmaterie; aber der Kontext selbst ist kontingent, d.h. er besteht nicht immer.

Textausschnitt: 316a Vorausgesetzt also, eine kommunikativer Kontext bzw. Kommunikationsgemeinschaft existiert, so gilt die Norm des Lügenverbotes als absolutes Handlungsverbot: Verstoß gegen die Tugend der Wahrhaftigkeit und damit gegen Gerechtigkeit. Der kommunikative Kontext ist genau jener Kontext, in Bezug auf den sich die Tugend der Wahrhaftigkeit konstituiert und der der Handlung "Falschaussage" somit die intentionale Identität einer Ungerechtigkeit verleiht. Die intentionale Handlung "lügen" ist gegen ein "für den Menschen Gutes" gerichtet: Gegen das Gut nämlich, als Glied einer Gemeinschaft menschlichen Zusammenlebens zu existieren; bzw. es richtet sich gegen dieses Gut als ein "für den anderen Gutes", d.h. dass er "als mir Gleicher" mit mir in einer Gemeinschaft des Zusammenlebens existiert. Das wird gerade deutlich bei der an sich harmlosesten aller Lügen, der Scherzlüge, die, wenn sie systematisch mit jemandem betrieben wird und man sich nicht dafür entschuldigt, dem anderen Anerkennung versagt und zwischenmenschliche Gemeinschaft zerstören kann. Insofern kein kommunikativer Kontext besteht, können diese Güter nicht verletzt werden; bzw. sofern diese Güter gar nicht verletzt werden können, kann man auch nicht von einer Ungerechtigkeit sprechen. (Fs)

317a Wenn das Lügenverbot meint, "man soll nicht ungerechte Falschaussagen machen", so kann deshalb als Grund von Ungerechtigkeit hier nicht die schlechte Absicht bzw. die schlechte Bilanz vorausgesehener Folgen bezeichnet werden, sondern allein der Kontext einer existierenden Kommunikationsgemeinschaft, ein Kontext, der eben ganz unabhängig von Absichten und weiteren Folgen existiert oder nicht existiert. Innerhalb dieses ethischen Kontextes gibt es demnach keine Kontingenz der Handlungsmaterie; aber der Kontext selbst ist kontingent, d.h. er besteht nicht immer. Ein absolutes Verbot kann aber, wie jede sittliche Norm und jede intentionale Handlung, immer nur in Bezug auf einen ethischen Kontext definiert werden. (Fs) (notabene)

317c Sofern also ein kommunikativer Kontext - der Kontext menschlichen, gesellschaftlichen Zusammenlebens - vorliegt, ist deshalb eine willentliche Falschaussage oder "Lüge" in sich und immer eine Ungerechtigkeit. Weil aber Normen immer in Bezug auf ethisch relevante Kontexte und entsprechende intentionale Handlungen formuliert werden, sprechen wir im Falle von nichtkommunikativen Kontexten von einer "Ausnahme". Streng genommen liegt jedoch die Ausnahme nicht auf Seiten der Norm, sondern auf der Seite des ethischen Kontextes, auf den sie sich bezieht. Wie das Tötungsverbot kennt es, wenn wir die Beschränktheit jeder Normformulierung und ihren Rückbezug auf praktische Prinzipien, Tugenden und intentionale Handlungen berücksichtigen, keine Ausnahme. (Fs)

18a Auch ausweichende Antworten wie "Ich weiß nicht" (als Antwort auf einen Fragesteller, der kein Recht auf die entsprechende Information hat) oder "Er ist nicht hier" (z. B. um jemanden vor einem unwillkommenen Telefonanruf zu "beschützen"), können m. E. unter Umständen eine Verletzung der Kommunikationsgerechtigkeit und damit der Tugend der Wahrhaftigkeit sein, nämlich dann, wenn die fragende Person vernünftigerweise annehmen darf, der Befragte und mit "Ich weiß es nicht" Antwortende wisse es tatsächlich nicht bzw. der ans Telefon Gerufene sei wirklich nicht zugegen. Hier werden falsche Informationen übermittelt und es liegt eine bewusste Irreführung vor1. Es gibt aber Kontexte, in denen - konventionellerweise - solche Antworten nichts anderes als allgemein bekannte Umgangsformen sind, die dazu dienen, auf höfliche, nicht brüskierende Weise zum Ausdruck zu bringen, man wolle, könne oder dürfe jemandem auf diese Frage keine Antwort geben oder der am Telefon Verlangte wolle jetzt, mit der Bitte um Respektierung seiner Privatsphäre, eben nicht ans Telefon kommen. Allerdings sind wohl gerade für den letzten Fall durchaus noch weniger brüskierende Wege denkbar. (Fs)

318b Da die Lüge eine willentliche Falschaussage und nur als solche eine Verletzung der Kommunikationsgerechtigkeit ist, verliert sie an Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit, je mehr der Wille des Sprechenden unter Einfluss von Furcht vor einem ihm drohenden Übel steht (und sie ist dann auch entsprechend weniger "Lüge"). Thomas v. Aquin sagt, je größer das mit einer Lüge zu erreichen beabsichtigte Gut ist, desto geringer ist die Schuld des Lügners2. Deshalb sind wir auch geneigt, in gewissen Umständen eine Lüge leicht zu entschuldigen. Das hat aber nichts mit ihrer normativen Rechtfertigung zu tun. Man soll sich ja auch für eine verständliche Notlüge entschuldigen; das kann man aber nur, wenn man nicht sagt, es habe sich um eine "gerechtfertigte Falschaussage" gehandelt, man habe also "richtig" gehandelt. Dann brauchte man sich ja gar nicht zu entschuldigen; man verdiente vielmehr Lob. In Wahrheit sind Notlügen Zeichen der Schwäche, der Feigheit ("Ein Lügner ist ein feiger Mensch"3), und oft ist ihre (subjektive) "Unausweichlichkeit" Folge unklugen Verhaltens. (Fs)

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