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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Kant, Aristoteles: Tugend; Konflikt: Pflicht - Neigung

Kurzinhalt: Für Aristoteles und im Unterschied zu Kant ist jedoch der Tugendhafte gerade derjenige, der tut, wozu er affektiv geneigt ist, denn seine Neigung entspricht ja der Vernunft.

Textausschnitt: 282a Dem gegenüber vertritt nun aber Kant, wie wir früher sahen1 gerade die Meinung, dass Tugend bzw. moralisches Handeln aus reiner Pflicht genau dann realisiert ist, wenn sich der Handelnde bewusst ist, seine Neigung zugunsten der Befolgung der Pflicht zurückgedrängt zu haben. Für Kant bleibt der Konflikt zwischen Neigung und moralischer Vernunft bzw. Pflichtbewusstsein für das, was er "Tugend" nennt, konstitutiv. Aristoteles hingegen vertritt die Auffassung, dass durch die sittliche Tugend dieser Zweispalt gerade aufgehoben werde. Auch Kant befindet sich allerdings in Übereinstimmung mit der Meinung des Aristoteles, dass "für den Schlechten (...) ein Zwiespalt zwischen Pflicht und Handlung" bestehe, "bei dem Tugendhaften dagegen befindet sich die Handlung mit der Pflicht im Einklang. Denn die Vernunft begehrt in jedem Menschen, was für sie das Beste ist, die Vernunft aber ist es, der der Tugendhafte gehorcht"2. Für Aristoteles und im Unterschied zu Kant ist jedoch der Tugendhafte gerade derjenige, der tut, wozu er affektiv geneigt ist, denn seine Neigung entspricht ja der Vernunft. Tugend ist also Einheit und Übereinstimmung von Neigung und Vernunft, von Neigung und Pflicht, von "subjektiven" Motiven und "objektiven" moralischen Handlungsgründen3. Zwischen dem Schlechten und dem Tugendhaften liegt für Aristoteles derjenige, der nicht die tugendhafte Neigung besitzt, aber dennoch z.B. aus Selbstbeherrschung tut, was gut ist; der also seine "Pflicht" erfüllt, aber gegen die Neigung. Für Kant entspricht gerade dieser Letztere, der Beherrschte, Enthaltsame, sich schlechten Neigungen Widersetzende und Starke, dem moralischen Menschen und damit dem schlechthin Tugendhaften, ja "selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu gebrauchen gewohnt ist" kann durch Unterwerfung unter das "moralische Sollen" einen guten Willen haben4. Der gute Wille scheint also mit ansonsten schlechten Neigungen vereinbar zu sein. Die Kritik lautet hier nicht, dass dies nicht möglich sei. Ein unmäßiger Mensch kann ja durchaus den guten Willen haben, von seinem Laster loszukommen, bereits bevor er es schafft, ein maßvoller Mensch zu werden. Aber dies ist nicht Tugend, sondern der Anfang des Weges zur Tugend. Es scheint nun nicht, dass für Kant diese Unterscheidung Sinn macht oder dass sie zumindest in seiner Ethik eine Rolle spielt. Kantisch gesehen genügt für "Tugend" der Wille, sich schlechten Neigungen zu widersetzen. Die Kantische Ethik ist eben gerade deshalb keine Tugendethik, auch wenn sie gleichsam als Anhang eine "Tugendlehre" enthält. Als reine Pflichtenethik von Vernunftimperativen, als eine Ethik der Zähmung einer bösen und egoistischen Natur durch Vernunft, muss sie aber aus der Sicht einer Tugendethik das Wesen von Moralität notwendigerweise verfehlen.

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