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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Das letzte Ziel und das Glück; Glücksstreben; Glück; glückliches Leben; Aristoteles, Thomas, omnes appetunt suam perfectionem adimpleri; Tautologie; Glückseligkeit

Kurzinhalt: Etwas um seiner selbst willen erstreben heißt, etwas zu wollen, das man in jeder erdenklichen Hinsicht und ohne Abstriche für gut zu halten fähig ist ... Ein Streben, das ins Unendliche fortgeht, wäre leer und vergeblich ...

Textausschnitt: 62b Zur ersten Frage: Es ist wohl möglich, ein Leben ohne einheitsstiftendes Ziel zu führen. Es wäre jedoch ein orientierungsloses Leben. Wir müssen diese Antwort aber noch etwas präzisieren: Wenn es auch möglich ist, ein solches orientierungsloses Leben zu führen, ein Leben also, das nicht in Permanenz von einem einzigen Ziel dominiert wird, so ist es doch nicht möglich in einer bestimmten Tätigkeit nicht jeweils ein Letztes zu verfolgen. Auch wenn dieses Letzte je nach Tätigkeit variiert, so ist ein Letztes doch immer da, denn sonst würde man sich zu gar keinem Tun entschließen können; bzw. es handelte sich nicht um eine echte menschliche Handlung, sondern um außengeleitetes Tun, das im Extremfalle ein pathologisches Phänomen wäre. (Fs) (notabene)

62c Wir müssen also nicht behaupten - und Aristoteles beispielsweise behauptet es ebenfalls nicht -, dass die Vielfalt aller Strebungen und Handlungen notwendigerweise in einem Ziel enden müssen. Das einzige was bisher gesagt sein muss, ist, dass jede einzelne Folgereihe von Strebungen notwendigerweise in einem Letzten endet1. Wer jeden Morgen ins Büro geht, tut dies mit Sicherheit aus irgend einem Letzten, das er damit erstrebt; aber dieses Letzte braucht nicht dasselbe zu sein, wie jenes, das er im täglichen Fitnesstraining erstrebt. Somit hat jede Praxis das ihr eigene letzte Ziel: Hier z.B. "Arbeiten" und "die Gesundheit erhalten". (Fs)

62d Die Frage ist nur, ob "Arbeiten" und "Gesundheit erhalten" wirklich als ein Letztes schlechthin erstrebt werden. Und damit ist nun etwas anderes gemeint: Nämlich ob wir solches um seiner selbst willen erstreben, oder doch nicht wiederum um eines anderen willen. Auf dieser Ebene ist es nun gar nicht möglich, zugleich um seiner selbst willen sowohl "Arbeiten" als auch "Gesundheit erhalten" zu erstreben. Das ergäbe innere Konflikte und zuweilen wohl auch solche im äußeren Verhalten. Hier geht es nicht mehr um die Ausrichtung einzelner Tätigkeiten auf ein Letztes, sondern das Sich-Ausrichten des Handelnden selbst als praktisches Subjekt überhaupt auf ein Letztes; also die Ausrichtung des ganzen Lebens auf ein Letztes. Wer dieses Letzte in der Erhaltung der Gesundheit sieht, der würde wohl auch zuweilen nicht zur Arbeit gehen, selbst wenn er dabei riskierte, seine Stelle zu verlieren und arbeitslos zu bleiben. Würde er zugleich auch das Letzte seines Lebens im Arbeiten erblicken, so müsste er zuweilen wohl auch an der Erhaltung seiner Gesundheit Abstriche machen. Die Position wäre also selbstwidersprüchlich und unmöglich. Würde der Betreffende jedoch je nach Situation sein letztes Ziel modifizieren, so würden wir ihn eher als eine charakterlosen Menschen einstufen. (Fs) (notabene)

63a Wollen wir denn nun aber überhaupt etwas um seiner selbst willen? Zunächst wäre zu klären, was denn mit "etwas um seiner selbst willen erstreben" gemeint ist. Etwas um seiner selbst willen erstreben heißt, etwas zu wollen, das man in jeder erdenklichen Hinsicht und ohne Abstriche für gut zu halten fähig ist, so dass gar keine Möglichkeit mehr besteht, es nochmals auf ein anderes hinzuordnen. Es handelte sich um ein Gut, in dessen Erlangung jegliches Streben gesättigt ist, seine Erfüllung findet und zum Stillstand kommt. Und da wir uns im Bereiche von Praxis bewegen, müsste es ein praktisches Gut sein, das heißt ein Gut, das in irgendeiner Form Gegenstand oder Inhalt einer Tätigkeit sein kann. Es handelte sich dabei folglich um eine Tätigkeit, die um keiner anderen willen vollzogen wird, sondern die in sich selbst ihr Ziel besitzt; die also gut ist, obgleich sie zu nichts weiterem gut ist. (Fs) (notabene)

63b Aristoteles nun sagt uns: Wenn es uns in unserem Handeln letztlich nicht um ein solches Gut zu tun wäre, dann "ginge die Sache ins Unendliche fort, und das menschliche Begehren wäre leer und eitel"1. Was ist hier gemeint? Genau das, was Thomas mit dem Satz "omnes appetunt suam perfectionem adimpleri"2 ausdrückt, was wir sinngemäß übersetzen können mit "alle streben nach der Vollendung ihrer selbst". Doch damit scheinen wir bei einer perfekten Tautologie folgender Art angelangt zu sein: Ein Streben, das ins Unendliche fortgeht, wäre leer und vergeblich, weil ein Streben, das jedes Gut immer nun um eines anderen willen zu erlangen suchte, eben ins Unendliche fortginge, d.h. nie zum Letzten: zur Vollendung gelangte. (Fs) (notabene)

63c In Wirklichkeit ist dies aber keine Tautologie, sondern die Beschreibung eines anthropologischen (oder handlungspsychologischen) Grundsachverhaltes. Er meint nichts anderes als, dass wir eben immer ein Letztes überhaupt erstreben. Es handelt sich hier um ein handlungspsychologisches Faktum. Nun gibt es solche, deren dominierendes Lebensziel in der Gesundheit besteht, andere, bei denen dies das materielle Wohlergehen, die Anerkennung durch andere, der Sinnengenuss oder das Erleben von Abenteuern ist. Was uns aber interessiert ist im Augenblick nicht, weshalb einer z.B. das materielle Wohlergehen als Lebensziel verfolgt. Sondern, was er eigentlich im Erstreben von Besitz als Lebensziel erstrebt. Wir würden sagen: Er glaubt darin sein Glück zu finden. Und was wir damit meinen ist: Er glaubt darin jenes zu finden, was man um keines anderen willen erstrebt, sondern um seiner selbst willen. Da wir also tatsächlich alle ein Letztes wollen, weil sonst alles Wollen leer und vergeblich wäre (das ist das Faktum) so wollen wir das, was wir jeweils als ein Letztes wollen (z.B. Besitzen materieller Güter) unter dem Gesichtspunkt, unser Streben zu erfüllen. Und erfülltes Streben, gesättigtes Wollen ist nun genau das, was alle Glück nennen. Es handelt sich dabei um einen "schwachen" Begriff von Glück, weil er noch in keiner Weise entscheidet, worin denn nun genauer "Glück" besteht. (Fs)

64a Es geht hier um das, wie Aristoteles sagt, "sich selbst genügende Gut". "Als sich selbst genügend gilt uns demnach das, was für sich allein das Leben begehrenswert macht, so dass es keines Weiteren bedarf. Für etwas derartiges aber halten wir die Glückseligkeit"1. Jeden Menschen, so dürfen wir hinzufügen, verlangt es mit Naturnotwendigkeit, nach etwas, was für sich allein das Leben begehrenswert macht. Er will, dass sein Leben als Ganzes gelingt. Und genau das ist es, was wir Glück nennen2. (Fs)

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