Autor: Rhonheimer, Martin Buch: Die Perspektive der Moral Titel: Die Perspektive der Moral Stichwort: Definition: Tugend (Thomas vs. Augustinus) Kurzinhalt: "Die [sittliche] Tugend ist ein Habitus des Wählens, der die in Bezug auf uns bemessene Mitte hält, gemäß der Bestimmung durch die Vernunft, und zwar so, wie ein kluger Mann sie zu bestimmen pflegt" Textausschnitt: 177a Thomas v. Aquin legt seiner Tugendlehre - der Gepflogenheit seiner Zeit entgegen - nicht die Augustinische, sondern die Aristotelische Definition der sittlichen Tugend zugrunde1. Diese lautet: "Die [sittliche] Tugend ist ein Habitus des Wählens, der die in Bezug auf uns bemessene Mitte hält, gemäß der Bestimmung durch die Vernunft, und zwar so, wie ein kluger Mann sie zu bestimmen pflegt"2. (Fs)
177b Die Hauptelemente dieser Definition sind die folgenden:
(1) Sittliche Tugend ist ein "Habitus des Wählens" (griech. hexis prohairetike; lat. habitus electivus). (Fs)
(2) Dieser Habitus, bzw. die Wahl bezieht sich auf eine "Mitte" (griech. mesotes; lat. medietas). (Fs)
(3) Diese Mitte, bzw. der Akt des Habitus (die Handlungswahl) wird durch die Vernunft bestimmt (griech. logos; lat. ratiö)
(4) Die Vernunft ist diejenige eines "klugen Mannes" (griech. phronimos; lat. eigentlich "prudens" oder sapiens, wobei damit Klugheit als "praktische Weisheit" bezeichnet wird)3. "Norm" ist also nicht irgendeine Vernunft, sondern die Klugheit: orthos logos oder recta ratio (agibilium). (Fs)
177c Eine sittliche Tugend vervollkommnet als Habitus die Handlungswahl, das heißt die "Wahl der Mittel" (die electio), und damit bewirkt sie im eigentlichen Sinne gutes Handeln. Die sittliche Tugend ist also in allen Fällen Vollkommenheit des wählenden und d.h. des handlungs-auslösenden Aktes des Willens, dies auch dann, wenn sie eigentlich und unmittelbar die Vollkommenheit eines sinnlichen Strebens ausmacht. Wir verstehen das, wenn wir uns an die früheren Ausführungen über das Verhältnis zwischen Wille, Vernunft und Leidenschaft und die dort angesprochene Möglichkeit von Wahlirrtum und Wahlunwissenheit erinnern. Genau vor dieser Art Irrtum und Unwissenheit bewahrt sittliche Tugend. Und umgekehrt: Sittliche Tugend garantiert die Vernunftgemäßheit jenes Urteils, das in einem Wahlakt in volviert ist und diesen bestimmt: Das affektiv geleitete konkrete, letzte, unmittelbar handlungsauslösen-de Urteil der praktischen Vernunft. (Fs)
178a Zweitens besteht, gemäß der genannten Definition, sittliche Tugend in einer "Mitte"; diese Mitte ist eine Mitte "in Bezug auf uns", und sie ist durch die Vernunft bestimmt, und zwar durch jene Vernunft, die Klugheit genannt wird. (Fs) ____________________________
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