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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Prinzipienerkenntnis und affektive Disposition

Kurzinhalt: Den bloß Unenthaltsamen oder moralisch Schwachen vergleicht deshalb Aristoteles mit "einer Stadt, die alles Notwendige beschließt und vortreffliche Gesetze hat, ...

Textausschnitt: 267b Denn wie Aristoteles betont, "verdirbt" das Laster "das Prinzip". Nicht jedes Urteilen allerdings wird durch "Lust und Unlust verdorben und verkehrt". So etwa ist das "Urteil über die Frage, ob das Dreieck eine Winkelsumme hat, die zwei rechten Winkeln gleich ist" affektiv nicht gefährdet; es ist ein rein theoretisches Urteil. Gefährdet sind hingegen Urteile, die affektiv gebunden sind, also solche der praktischen Vernunft, "Urteile über das, was man tun soll. Denn die Prinzipien der Handlungen liegen in ihren Zwecken. Ist man aber einmal durch Lust oder Unlust bestochen, so verbirgt sich einem sofort das rechte Prinzip, und man vergisst, dass man seinetwegen und um seinetwillen alles wählen und tun soll. Denn es ist der Schlechtigkeit eigen, das Prinzip zu verderben"1. (Fs) (notabene)

267c Erworbene affektive Dispositionen, also Tugenden und Laster, haben einen Einfluss sowohl auf die Erkenntnis der Prinzipien wie auch auf ihre handlungsleitende Effizienz. Der Tugendhafte tut das Gute aufgrund affektiver Konnaturalität mit dem Guten. Das intentionale Zielstreben seiner affektiven Dispositionen bewirkt gerade, dass er mit Leichtigkeit, Beständigkeit und Freude tut, was den Prinzipien entspricht. "Tugend, natürliche oder durch Gewöhnung erworbene, lehrt, die rechte Auffassung über das Prinzip des Handelns zu besitzen"2. Dadurch wird Klugheit möglich, die ein "untrüglicher, vernünftiger Habitus des Handelns ist in Dingen, die die menschlichen Güter betreffen"3. (Fs)

267d Der Unenthaltsame hingegen weiß zwar, was gut ist, er verfällt jedoch dem Wahlirrtum: Sein praktisches Urteil in der Handlungswahl wird affektiv fehlgeleitet. Aber "er hat das Beste, das Prinzip nicht verloren"4. Typisch ist in diesem Fall nachträgliche Einsicht und Reue5. Der eigentlich Lasterhafte jedoch besitzt anstelle der Prinzipien ein anderes Prinzip, nämlich jenes, das seinen affektiven Dispositionen entspricht. Den bloß Unenthaltsamen oder moralisch Schwachen vergleicht deshalb Aristoteles mit "einer Stadt, die alles Notwendige beschließt und vortreffliche Gesetze hat, dieselben aber nicht in Vollzug bringt"; der Lasterhafte jedoch "gleicht einer Stadt, die ihre Gesetze zwar in Vollzug bringt, aber schlechte Gesetze hat"6. (Fs) (notabene)

268a Das aber macht das Geschäft der Ethik selbst zu einer gefährdeten Aufgabe. Aristoteles betont gleich zu Beginn seiner Nikomachischen Ethik, dass derjenige, der "den Leidenschaften gemäß lebt" und nicht der Vernunft gemäß, kein geeigneter Hörer von Ethikvorlesungen ist. Diese Aussage ist freilich eine Zumutung. Aber ist sie deshalb weniger wahr? Auch wenn man sie wohl in dem Sinne präzisieren müsste, dass kein geeigneter Hörer der Ethik jener sei, der nicht zumindest die Absicht verfolgt oder sonst irgendwie gewillt ist, der Vernunft gemäß zu handeln. Denn genau dieser ist es ja, der nicht auf Gründe hören will, und dem ebenfalls nicht daran liegt, seine Präferenzen und Prioritäten zu hinterfragen und sie gegebenenfalls zu revidieren. Genau das ist jedoch das Geschäft der Ethik. (Fs)

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