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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Das Volk Gottes

Titel: Das Volk Gottes

Stichwort: Institution; Gegenbewegung, Reform, Ressentiment

Kurzinhalt: Anti-zivilisatorischen Beimischungen bei Reformen; doppelte Gefährlichkeit; besondere Verwundbarkeit der westlichen Zivilisation; Nietzsche

Textausschnitt: 10 Wir sprachen gerade vom unverdaulichen Bodensatz der Bewegungen und ihrer Unterdrückung. Bildet sich eine Volksbewegung von Massenrelevanz in Opposition zu einer Institution, dann ist diese Bildung der definitive Beweis, daß die Institution es irgendwie versäumt hat, die ihr anvertrauten Probleme zu meistern; soweit ist die vox populi, vox Dei eine goldene Weisheit. Allerdings ist die Bildung einer solchen Bewegung niemals ein Beweis dafür, daß mit der Richtung, in die sie sich bewegt, irgendein innerer Wert verbunden ist. Die Bewegung mag ein Vorstoß in Richtung auf die soziale Verwirklichung geistiger Werte sein; aber dieser Vorstoß mag auch nicht mehr sein als ein Kern, umgeben von einem weiten Mantel zerstörerischen Hasses auf die Institution, die hinsichtlich einer spezifischen Aufgabe versagt hat. Aus dieser Möglichkeit ergeben sich besondere Gefahren im Hinblick auf die Spannungen zwischen den Institutionen und den Bewegungen, von denen einige generell in allen Zivilisationen angelegt sind, andere spezifisch in der westlichen Zivilisation. (21; Fs)

11 Die legitimen Beschwerden einer spirituellen Bewegung, ihr Ruf nach Reformen im christlichen Sinne, können begleitet sein von einer feindseligen Haltung gegenüber zivilisatorischen Werten. Diese Beimischung von zivilisatorischer Feindseligkeit ist ein praktisch unvermeidliches Merkmal von Bewegungen an der unteren sozialen Schicht; das Ressentiment gegen intellektuelle und ästhetische Werte, die von der oberen Gesellschaftsklasse verwirklicht werden, wird einen gut Teil an Motivationskraft für den Ruf nach Reformen liefern. Der Schrei nach geistiger Reform ist typischerweise gekoppelt mit Forderungen nach einer 'Bücherverbrennung', nach Unterdrückung literarischer und künstlerischer Kultur und nach Abschaffung der herrschenden Eigentumsordnung. (21f; Fs)

12 Diese anti-zivilisatorischen Beimischungen sind für die Institutionen doppelt gefährlich. Sie sind eine Gefahr aufgrund ihres direkten Angriffs auf die zivilisatorischen Werte; und sie sind eine noch größere Gefahr, weil diese Beimischung dem institutionellen Widerstand gegen Bewegungen Legitimität verleiht: Die anti-zivilisatorischen Elemente in den Bewegungen werden für die herrschende Klasse zur Entschuldigung, die legitimen Beschwerden nicht zu befriedigen; und der momentane Sieg der Institution kann, als eine Konsequenz, die Ursache für noch schlimmere Ausbrüche in der Zukunft werden. (22; Fs)

13 Dieser kumulative Effekt des Widerstandes gegen legitime Rufe nach Reformen hat besonders ernste Konsequenzen in einer Zivilisation des westlich-christlichen Typus. Denn gehen die Reformen nicht voran, so richten sich die Ressentiments - die sich immer schnell gegen die von den Institutionen verkörperten zivilisatorischen Werte richten - gegen die geistigen Werte selbst. Der Prozeß, der mit Bewegungen für eine geistige Reform begann, könnte mit Bewegungen gegen den Geist enden. Dies war in der Tat der Verlauf der Bewegungen der westlichen Zivilisation: Er beginnt mit Bewegungen des albigensischen Typus und endet mit Bewegungen des kommunistischen und nationalsozialistischen Typus. Diese Entwicklung ist in der Geschichte ohne Parallele. Die westlich-christliche Zivilisation besitzt eine besondere Verwundbarkeit und weist besondere Probleme des Niedergangs auf: Während in der griechisch-römischen Zivilisation die Spannung des Niedergangs durch Bewegungen verursacht wurde, die einen Fortschritt des Geistes darstellten, wurde in der westlich-christlichen Zivilisation die Spannung des Niedergangs durch Bewegungen verursacht, die geistig rückläufig sind.1 (22; Fs)

14 Es ist von größter Wichtigkeit, zwischen diesen verschiedenartigen Komponenten innerhalb der Bewegungen zu unterscheiden, denn eine ungenügende Unterscheidung könnte bei ihrer Interpretation zu einer ernsthaften Verwirrung führen. So sah beispielsweise Nietzsche nur die Komponente des Ressentiments in den Anfängen des Christentums als auch in den späteren christlichen Reformbewegungen - eine Komponente, die sicherlich präsent war. Hingegen war er blind für die geistigen Werte des Christentums, und sein Angriff auf die zivilisatorische Korruption verleitete ihn, als eine Folge, zu dem tragisch-absurden Versuch einer geistigen Revolte gegen den Geist. Der Fall Nietzsche ist besonders erhellend aufgrund der engen Beziehung zwischen einer theoretisch falschen Analyse und den praktischen Konsequenzen: Eine Bewegung wie der Nationalsozialismus konnte mit einer gewissen Legitimität ihre Abstammung von Nietzsche behaupten, trotz der Tatsache, daß Nietzsches Intention präzise gegen die Züge in der westlichen Zivilisation gerichtet war, die in dieser Bewegung manifest waren. Die geistige Revolte blieb wirkungslos; die Revolte gegen den Geist gewann gesellschaftliche Relevanz. (23; Fs)

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