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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Das Volk Gottes

Titel: Das Volk Gottes

Stichwort: Institution, Anpassung; Polis, Apolitismus; Christentum, Reformation; Bergpredigt; vox populi, vox Dei

Kurzinhalt: Bilden darüber hinaus solche Personen Gemeinschaften und werden in organisierter Form politisch aktiv, dann ist die Situation reif für eine Revolution.

Textausschnitt: 6 Eine Institution muß dauernd am Prozeß ihrer Restabilisierung arbeiten durch die Lösung der Probleme, die - blieben sie ungelöst - ihren Wert und ihre Bedeutung zerstörten. Versäumt die herrschende Gruppe einer Institution eine solche Anpassung, so wird sich eine zunehmende Personenzahl 'ausgeschlossen' fühlen. Wird die Zahl dieser Personen in einer bestehenden Gesellschaft groß genug und verleihen sie ihren Gefühlen und Ideen in einer Verhaltensphilosophie Ausdruck, die zwar diejenigen anspricht, die mit ihrem 'Körper' an einer Gemeinschaft teilhaben, nicht aber mit ihrer 'Seele' (um die platonische Formulierung zu gebrauchen), dann erreicht das Phänomen des Apolitismus eine gesellschaftlich relevante Schicht. Bilden darüber hinaus solche Personen Gemeinschaften und werden in organisierter Form politisch aktiv, dann ist die Situation reif für eine Revolution. (19f; Fs) (notabene)

7 Spannungen dieser Art treten, wie gesagt, in jeder Zivilisation auf, doch variieren ihre Formen entsprechend ihrer jeweiligen geistigen Struktur stark. Im Falle der hellenischen Zivilisation sahen wir, daß die Art der Spannung durch den Konflikt zwischen dem kollektiven Mythos der Polis und dem Mythos der Seele der mystischen Philosophen bestimmt war. Das Anschwellen des Apolitismus in Hellas - vollzog er sich erfolgreich - konnte nur in der Auflösung der Polis enden; der polytheistische Kollektivismus der Polis-Welt konnte nur mit einem Kollaps auf den im wesentlichen monotheistischen und universellen Mystizismus der Seele reagieren. (20; Fs)

8 In einer christlichen Zivilisation sind die Determinanten der Situation grundsätzlich anders. Die öffentlichen Institutionen des imperialen Christentums (Kirche und Reich) haben, von Beginn an, die Probleme der geistigen Seele und ihres Schicksal in ihr System absorbiert. Prinzipiell scheint es unmöglich, daß Situationen wie die öffentliche Unzufriedenheit mit der Reichsreligion Echnatons, oder der Apolitismus der hellenischen Schulen, oder der chinesische 'Assoziationismus' in Konflikt mit der konfuzianischen öffentlichen Ordnung in einer christlichen Zivilisation entstehen könnten. Tatsächlich entstehen Situationen dieser besonderen Art nicht; vielmehr nehmen die Spannungen spezifisch unterschiedliche Formen an. Zur Bezeichnung dieses spezifischen Unterschieds halten wir den Terminus Reformation für geeignet. (20; Fs)

9 Die Bewegung des Geistes ist in der Kirche institutionalisiert worden; deshalb können die geistigen Bewegungen vom unteren Ende der Gesellschaft nicht in grundsätzlicher Opposition zu den Institutionen stehen. Die oppositionelle Bewegung ist in engster Weise mit dem Geist der Institutionen verbunden und muß sich selbst in einem Ruf nach Reformen artikulieren. Der Spiritualismus des Christentums - insbesondere der Spiritualismus der Bergpredigt - ist ein Maßstab, an dem die Institution, von der man erwartet, daß sie ihm entspricht, gemessen werden kann. Wird die spirituelle Ordnung des Christentums durch das Verhalten der herrschenden Gruppen massiv verletzt, so kann an solche Maßstäbe appelliert werden, die prinzipiell für die herrschenden Gruppen akzeptabel sind. Die Antwort auf eine spirituelle Bewegung von unten ist nicht notwendigerweise ein Zusammenbruch, sondern kann auch die Reformation der Institutionen bedeuten. Die Kategorie der Reformation wird so zu einer Idee, die die mittelalterliche und die moderne westliche Zivilisation von der hellenischen unterscheidet. Tatsächlich sind die fünf Jahrhunderte zwischen 1000 und 1500 nach Christus sowohl durch die Verdauung radikaler spiritueller Bewegungen als auch durch eine Reihe kleinerer Reformationen charakterisiert wie auch durch die gesellschaftliche, gelegentlich blutige Unterdrückung des unverdaulichen Bodensatzes solcher Bewegungen. (20f; Fs)

10 Wir sprachen gerade vom unverdaulichen Bodensatz der Bewegungen und ihrer Unterdrückung. Bildet sich eine Volksbewegung von Massenrelevanz in Opposition zu einer Institution, dann ist diese Bildung der definitive Beweis, daß die Institution es irgendwie versäumt hat, die ihr anvertrauten Probleme zu meistern; soweit ist die vox populi, vox Dei eine goldene Weisheit. Allerdings ist die Bildung einer solchen Bewegung niemals ein Beweis dafür, daß mit der Richtung, in die sie sich bewegt, irgendein innerer Wert verbunden ist. Die Bewegung mag ein Vorstoß in Richtung auf die soziale Verwirklichung geistiger Werte sein; aber dieser Vorstoß mag auch nicht mehr sein als ein Kern, umgeben von einem weiten Mantel zerstörerischen Hasses auf die Institution, die hinsichtlich einer spezifischen Aufgabe versagt hat. Aus dieser Möglichkeit ergeben sich besondere Gefahren im Hinblick auf die Spannungen zwischen den Institutionen und den Bewegungen, von denen einige generell in allen Zivilisationen angelegt sind, andere spezifisch in der westlichen Zivilisation. (21; Fs)

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