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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Ende d. Modernität 2a; Gnostizismus: Missachtung der Grundsätze menschlicher Existenz (Ordnung - Traumwelt - Existenzangst); pneumopathologischer Geisteszustand;

Kurzinhalt: In jeder Gesellschaft ist somit die Neigung präsent, den Sinn der Ordnung auf das Faktum der Existenz auszudehnen, aber in vorwiegend gnostischen Gesellschaften wird diese Ausweitung zum Prinzip erhoben.

Textausschnitt: 229a Die erste Gefahr war die Zerstörung der Wahrheit der Seele. Die zweite hängt eng mit der ersten zusammen. Die Wahrheit des Gnostizismus ist, wie oben dargelegt, mit dem Defekt der Immanentisierung des christlichen Eschaton behaftet. Dieser Defekt ist nicht einfach ein theoretischer Irrtum betreffend den Sinn des Eschaton, der diesem oder jenem Denker unterlaufen wäre; er ist mehr als eine bloße Angelegenheit der Schulen. Denn auf Grund dieses Denkfehlers interpretieren gnostische Denker, Führer und ihre Anhänger eine konkrete Gesellschaft und deren Ordnung als ein Eschaton; und wenn sie ihre Fehlkonstruktion auf konkrete soziale Probleme anwenden, dann stellen sie die Struktur der immanenten Realität falsch dar. Die eschatologische Interpretation der Geschichte ergibt ein falsches Bild der Realität; und Irrtümer betreffend die Struktur der Realität haben Konsequenzen in der Praxis, wenn die falsche Konzeption zur Basis politischer Aktion gemacht wird. Im besonderen zerstört die gnostische Täuschung die älteste Weisheit der Menschheit betreffend den Rhythmus von Werden und Vergehen, der das Schicksal aller Dinge unter der Sonne ist. Der Prediger sagt: (Fs)

Jeglichem seine Stunde,
Und eine Zeit für jedes Vorhaben unter dem Himmel:
Eine geboren zu werden, und eine zu sterben.

230a Über die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis nachsinnend, sagt der Prediger weiter, der Geist des Menschen könne "das Werk, das Gott von Anbeginn bis zum Ende vollbringt", nicht ermessen. Was entsteht, das muß vergehen; und: das Mysterium des Seinsstroms ist undurchdringlich. Das sind die beiden großen Prinzipien, die das Dasein bestimmen. Die gnostische Spekulation über das Eidos der Geschichte ignoriert jedoch nicht nur diese Prinzipien, sondern verkehrt sie in ihr Gegenteil. Denn die Idee vom Endreich setzt eine Gesellschaft voraus, die zwar einen Anfang, aber kein Ende haben wird; und das Mysterium des Seinsstroms wird durch das spekulative Wissen um sein Ziel gelöst. Der Gnostizismus hat sozusagen die Gegenprinzipien zu den Prinzipien der Existenz hervorgebracht. Und insofern diese Prinzipien für die Massen der Gläubigen das Bild der Realität bestimmen, hat er eine Traumwelt geschaffen, die ihrerseits eine soziale Kraft erster Ordnung ist, wenn es zur Motivierung der Haltungen und Aktionen gnostischer Massen und ihrer Repräsentanten kommt. (Fs) (notabene)

230b Das Phänomen einer auf bestimmte Prinzipien gegründeten Traumwelt bedarf einiger Erläuterung. Es wäre als historisches Massenphänomen kaum möglich, wenn es nicht in tiefgehenden Erlebnissen verwurzelt wäre. Der Gnostizismus als eine gegenexistentielle Traumwelt kann vielleicht als der extreme Ausdruck allgemein menschlicher Erfahrungen zum Verständnis gebracht werden: der Erfahrungen der Existenzangst und des Dranges ihr zu entrinnen. Konkret läßt sich das Problem folgendermaßen ausdrücken: Eine Gesellschaft wird, sobald sie existent ist, ihre Ordnung als Teil der Seinsordnung interpretieren. Diese Selbstinterpretation der Gesellschaft als Spiegel der kosmischen Ordnung ist jedoch ein Teil der sozialen Wirklichkeit selbst. Die geordnete Gesellschaft zusammen mit ihrer Selbstinterpretation bleibt eine Welle im Seinsstrom; die Polis des Aischylos mit ihrer ordnenden Dike ist im Meer dämonischer Unordnung eine Insel, die sich nur mühsam im Dasein erhält. Nur die Ordnung einer existenten Gesellschaft ist verstehbar; ihre Existenz an sich ist nicht verstehbar. Die erfolgreiche Artikulierung einer Gesellschaft ist ein Faktum, das unter günstigen Umständen möglich geworden ist; und das Faktum kann durch ungünstige Umstände, wie beispielsweise durch das Auftreten einer stärkeren, erobernden Macht, zunichte gemacht werden. Die fortuna secunda et adversa ist die lächelnde, schreckliche Göttin, die über den Existenzbereich herrscht. Dieses Risiko einer recht- und grundlosen Existenz ist ein dämonisches Grauen; sogar für den Beherzten ist es schwer zu tragen; und es ist kaum erträglich für zarte Seelen, die nicht leben können ohne den Glauben, sie verdienten zu leben. Man kann daher wohl zu Recht annehmen, daß in jeder Gesellschaft mehr oder minder stark die Neigung vorhanden ist, den Sinn ihrer Ordnung auf das Faktum ihrer Existenz auszudehnen. Vor allem wenn eine Gesellschaft eine lange, ruhmreiche Geschichte aufweist, wird ihre Existenz leicht für einen wesensmäßigen Teil der Seinsordnung gehalten. Es ist unvorstellbar geworden, daß die Gesellschaft einfach zu existieren aufhören könnte. Und wenn ein großer symbolischer Schlag dröhnt, man denke an die Eroberung Roms im Jahre 410, geht ein Stöhnen durch den orbis terrarrum, daß nun das Ende der Welt gekommen sei. (Fs) (notabene)

231a In jeder Gesellschaft ist somit die Neigung präsent, den Sinn der Ordnung auf das Faktum der Existenz auszudehnen, aber in vorwiegend gnostischen Gesellschaften wird diese Ausweitung zum Prinzip erhoben. Die Verschiebung von einer Stimmung, einer trägen Indifferenz, in der Existenz als selbstverständlich erscheint, zu einem Prinzip, bestimmt nun eine neue Verhaltensweise. Im ersten Falle, dem der Stimmung, kann man von einer Neigung sprechen, sich um die Struktur der Realität nicht zu kümmern, sich ganz der Süße des Daseins hinzugeben, von einem Absinken der bürgerlichen Moral, von einer Blindheit gegenüber offensichtlichen Gefahren und einem Widerwillen, ihnen ernsthaft zu begegnen. Das wäre die Gemütsverfassung alternder, sich auflösender Gesellschaften, die nicht mehr gewillt sind, um ihre Existenz zu kämpfen. Im zweiten, gnostischen Falle ist die psychologische Situation eine ganz andere. Im Gnostizismus ist die Nichtanerkennung der Realität eine Sache des Prinzips. In diesem Falle müßte man eher von einer Neigung sprechen, sich des Risikos der Existenz bewußt zu bleiben, es gleichzeitig aber nicht als Problem in die gnostische Traumwelt aufzunehmen. Auch vermindert der Traum nicht den Verantwortungsgeist der Bürger oder die Bereitschaft, im Notfall tapfer zu kämpfen. Die Haltung der Realität gegenüber bleibt energisch und aktiv, aber weder die Realität noch die Aktion in der Realität kann scharf in Fokus gebracht werden; das Bild wird durch den gnostischen Traum getrübt. Das Ergebnis ist ein sehr komplexer, pneumopathologischer Geisteszustand, wie er in Hockers Bild des Puritaners skizziert wurde. (Fs)

232a Das Studium des Phänomens und seiner zeitgenössischen Spielarten ist jedoch schwieriger geworden, als es zu Hookers Zeit war. Im sechzehnten Jahrhundert wurden die Traumwelt und die wirkliche Welt noch terminologisch durch die christliche Symbolik der zwei Welten auseinandergehalten. Die Krankheit und ihre besondere Spielart konnte leicht diagnostiziert werden, weil der Patient sich selbst voll bewußt war, daß die neue Welt nicht die Welt war, in der er wirklich lebte. Mit der radikalen Immanentisierung wird die Traumwelt terminologisch in die reale Welt hineingeblendet. Die Besessenheit, die wirkliche Welt durch die verklärte Traumwelt zu ersetzen, ist zur Besessenheit von der einen Welt geworden, in welcher die Träumer das Vokabular der Realität, mit entsprechender Änderung seines Sinnes, gebrauchen und vom Traum sprechen, als wäre er Wirklichkeit. (Fs) (notabene)

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