Autor: Voegelin, Eric Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Stichwort: Ende d Modernität 1; Wahrheit d. kosmischen Ordnung; Gnosis, Gnostizismus als theologia civilis; Kirche: Wahrheit d. Seele; Totalitarismus unserer Zeit: Zivilreligion; Kulturzyklus (adventlich, rezessiv) Kurzinhalt: In den gnostischen Zivilisationen kehrt die Wahrheit der Seele nicht in die kompakte Form zurück, sondern wird gänzlich unterdrückt. In dieser Unterdrückung der autoritativen Quelle der Ordnung in der Seele liegt die Ursache für die kalte Grausamkeit ... Textausschnitt: 224a Hobbes hatte das Fehlen einer theologia civilis als die Quelle der Schwierigkeiten erkannt, von denen die Ordnung Englands in der puritanischen Krise befallen war. Die verschiedenen in den Bürgerkrieg verwickelten Gruppen waren so himmelsüchtig darauf bedacht, die Gesellschaft die richtige Variante transzendenter Wahrheit repräsentieren zu lassen, daß die existentielle Ordnung in Gefahr war, unterzugehen. Es war die Gelegenheit, die Entdeckung Platons neu zu entdecken: daß eine Gesellschaft als ein geordnetes Kosmion, als ein Repräsentant kosmischer Ordnung existieren muß, um sich den Luxus zu erlauben, auch die Wahrheit der Seele zu repräsentieren. Die Repräsentation der Wahrheit der Seele im christlichen Sinne ist die Funktion der Kirche, nicht der zivilen Gesellschaft. Wenn eine Vielzahl von Kirchen und Sekten anfängt, um die Herrschaft zu kämpfen, und keine von ihnen stark genug ist, einen unbestrittenen Sieg zu erringen, kann in der Logik der Ordnung die Situation nur dadurch bewältigt werden, daß der existentielle Repräsentant die Kampfhähne zu privaten Vereinigungen innerhalb der Gesellschaft reduziert. Dieses Problem der Existenz wurde schon mehrmals berührt. Es bedarf nunmehr einer zusammenfassenden Klärung, ehe die Hobbes'sche Idee vom Menschen dargelegt und bewertet werden kann. Die Analyse wird zweckmäßigerweise von den Punkten ausgehen, die bereits gesichert sind. (Fs)
224b Das Christentum hatte das Vakuum einer entgötterten natürlichen Sphäre politischer Existenz zurückgelassen. In der konkreten Situation des spätrömischen Reiches und der frühen westlichen politischen Gründungen wurde dieses Vakuum solange zu keinem größeren Unruheherd, als der Mythos des Reiches nicht ernstlich durch die Konsolidierung von Nationalreichen beeinträchtigt wurde und als die Kirche der vorherrschende kulturelle Faktor in der Entfaltung der westlichen Gesellschaft war, so daß das Christentum faktisch als Ziviltheologie fungieren konnte. Sobald jedoch ein gewisser kultureller Sättigungsgrad erreicht war, als sich an den Höfen und in den Städten Zentren der Laienkultur bildeten, als entsprechend die Zahl der Laien in den königlichen Verwaltungen wie auch in den Stadtregierungen anstieg, zeigte sich nur zu deutlich, daß die Probleme einer Gesellschaft in historischer Existenz durch ein bloßes Warten auf das Ende der Welt keineswegs erschöpft waren. Der Aufstieg des Gnostizismus an diesem kritischen Wendepunkt erscheint jetzt in einem neuen Licht als der Anfang des Bemühens um eine westliche Ziviltheologie. Die Immanentisierung des christlichen Eschaton macht es möglich, der Gesellschaft in ihrer natürlichen Existenz einen Sinn zu verleihen, welchen das Christentum ihr versagt hatte. Und der Totalitarismus unserer Zeit muß als die letzte Station auf der gnostischen Suche nach einer Ziviltheologie verstanden werden. (Fs) (notabene)
225a Das Experimentieren mit einer Ziviltheologie war jedoch von Gefahren umwittert, die aus dem hybriden Charakter des Gnostizismus als eines Derivates des Christentums erwuchsen. Die erste dieser Gefahren wurde bereits behandelt. Sie bestand im Bestreben des Gnostizismus, die Wahrheit der Seele nicht zu ergänzen, sondern zu ersetzen. Die gnostischen Bewegungen begnügten sich nicht damit, das Vakuum der Ziviltheologie auszufüllen; sie hatten die Tendenz, das Christentum abzuschaffen. In den Anfangsphasen der Bewegung trat der Angriff noch unter dem Deckmantel eines christlichen "Spiritualismus" oder einer "Reform" auf. In den späteren Phasen wurde er jedoch mit der radikaleren Immanentisierung des Eschaton offen antichristlich. Wo immer die gnostischen Bewegungen Fuß faßten, zerstörten sie die Wahrheit der geöffneten Seele; ein ganzer Bereich differenzierter Realität, der von der Philosophie und vom Christentum erschlossen worden war, wurde zertrümmert. Und wiederum ist es nötig daran zu erinnern, daß das Vordringen des Gnostizismus nicht eine Rückkehr zum Heidentum ist. In den vorchristlichen Kulturen war die Wahrheit, die sich durch das Öffnen der Seele differenzierte, in der Form kompakter Erlebnisse präsent. In den gnostischen Zivilisationen kehrt die Wahrheit der Seele nicht in die kompakte Form zurück, sondern wird gänzlich unterdrückt. In dieser Unterdrückung der autoritativen Quelle der Ordnung in der Seele liegt die Ursache für die kalte Grausamkeit totalitärer Regierungen im Umgang mit Einzelmenschen. (Fs) (notabene)
226a Das eigentümliche Resultat der Unterdrückung durch das Wachstum des Gnostizismus in der westlichen Gesellschaft regt den Gedanken eines Kulturzyklus von welthistorischen Ausmaßen an. Die Umrisse eines Riesenzyklus zeichnen sich ab, der die Zyklen der einzelnen Zivilisationsgesellschaften überwölbt. Den Höhepunkt dieses Zyklus würde das Erscheinen Christi kennzeichnen; die vorchristlichen Hochkulturen wären sein aufsteigender, die moderne, gnostische Zivilisation sein absteigender Ast. Die vorchristlichen Hochkulturen stiegen von der Kompaktheit des Erlebens zur Differenzierung der Seele als des Sensoriums der Transzendenz auf; und im mittelmeerischen Kulturbereich gipfelte dieser Aufstieg in der maximalen Differenzierung durch die Offenbarung des Logos in der Geschichte. Sofern die vorchristlichen Kulturen sich auf dieses Maximum des Advent hin bewegen, kann ihre Dynamik "adventlich" genannt werden. In der modernen gnostischen Zivilisation wird die Tendenz zur Differenzierung rückläufig, und sofern sie vom Maximum zurückweicht, kann ihre Dynamik "rezessiv" genannt werden. Zwar hat die westliche Gesellschaft ihren eigenen Zyklus von Wachstum, Blüte und Abstieg, aber da sie die Entfaltung des Gnostizismus mit sich brachte, muß sie als der absteigende Ast des umfassenden Advent-Rezessions-Zyklus angesehen werden. (Fs) (notabene)
227a Diese Betrachtungen eröffnen eine Perspektive auf die weitere Dynamik der Zivilisation. Der moderne Gnostizismus hat seine Kraftreserven durchaus noch nicht verbraucht. Im Gegenteil, in der Variante des Marxismus breitet er seine Einflußsphäre in Asien gewaltig aus, während andere Varianten des Gnostizismus, wie der Progressivismus, Positivismus und Szientismus in neuen Gebieten unter dem Titel der "Verwestlichung" und "Entwicklung rückständiger Gebiete" Fuß fassen. Und man kann wohl sagen, daß auch in der westlichen Gesellschaft selbst seine Kraft keineswegs erlahmt ist, sondern daß unsere eigene "Verwestlichung" noch zunimmt. Angesichts dieser weltweiten Ausdehnung ist es nötig, das Selbstverständliche festzustellen: daß die menschliche Natur sich nicht ändert. Die Verschließung der Seele im modernen Gnostizismus kann die Wahrheit der Seele wie auch die Erfahrungen, die sich in Philosophie und Christentum manifestieren, unterdrücken, aber sie kann die Seele und ihre Transzendenz nicht aus der Struktur der Wirklichkeit entfernen. Daher drängt sich die Frage auf: wie lange kann eine solche Unterdrückung andauern? Und was wird geschehen, wenn anhaltender, schwerer Druck zu einer Explosion führt? Solche Fragen betreffend die Dynamik der Zukunft sind legitim, weil sie aus einer methodisch korrekten Anwendung der Theorie auf eine empirisch beobachtete Komponente zeitgenössischer Zivilisation erwachsen. Es wäre jedoch nicht legitim, sich Spekulationen über die Form, welche die Explosion annehmen wird, hinzugeben über die berechtigte Annahme hinaus, daß die Reaktion gegen den Gnostizismus genau so weltweit sein wird wie seine Expansion. Die komplizierenden Faktoren sind so zahlreich, daß Voraussagen sinnlos wären. Auch was unsere eigene westliche Gesellschaft anbelangt, läßt sich kaum mehr tun als darauf hinweisen, daß der Gnostizismus trotz seines geräuschvollen Aufstiegs das Feld durchaus nicht alleine beherrscht, daß die klassische und christliche Tradition der westlichen Gesellschaft lebt, daß die Bildung eines geistigen und intellektuellen Widerstandes gegen den Gnostizismus in all seinen Spielarten ein Faktor in unserer Gesellschaft ist, daß die Wiederherstellung einer Wissenschaft von Mensch und Gesellschaft eines der beachtlichen Ereignisse des letzten Halbjahrhunderts darstellt und rückblickend einem künftigen Betrachter vielleicht als das wichtigste Ereignis unserer Zeit erscheinen wird. Noch weniger läßt sich, aus naheliegenden Gründen, über die mutmaßliche Reaktion einer lebendigen christlichen Tradition gegen den Gnostizismus im Sowjetreich aussagen; und gar nichts darüber, wie wohl die chinesische, die hinduistische, islamische und die primitiven Zivilisationen reagieren werden, wenn sie auf die Dauer der Verheerung und Unterdrückung durch den Gnostizismus ausgesetzt sind. Nur über einen Punkt läßt sich zumindest eine begründete Vermutung anstellen, nämlich über den Zeitpunkt der Explosion. Eine objektive Zeitangabe ist auch in diesem Fall nicht möglich; aber der Gnostizismus enthält in sich einen Faktor, der gegen ihn selbst arbeitet, und dieser Faktor macht es zumindest wahrscheinlich, daß der Zeitpunkt näher ist, als man unter dem Eindruck der gnostischen Macht des Augenblicks annehmen möchte. Dieser selbstzerstörende Faktor ist die zweite Gefahr des Gnostizismus als einer Ziviltheologie. (Fs) ____________________________
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