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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Die gnostische Revolution 5b; Hobbes: theologia civilis; Spannung: Wahrheit d. Gesellschaft (theologia civilis) - Wahrheit der Seele; Plato: Politeia -> Nomoi

Kurzinhalt: Hobbes erkannte, daß ohne eine unbestrittene Ziviltheologie öffentliche Ordnung unmöglich war; Öffnen der Seele als einer Epoche seelischer Differenzierung und der Struktur der Realität, die unverändert bleibt..

Textausschnitt: 217a Das Öffnen der Seele war ein epochales Ereignis in der Menschheitsgeschichte, weil mit der Differenzierung der Seele als des Sensoriums der Transzendenz die kritischen theoretischen Maßstäbe für die Interpretation der menschlichen Existenz in der Gesellschaft sichtbar wurden, sowie die Quelle der Autorität jener Maßstäbe. Als die Seele sich auf die transzendente Realität hin öffnete, begegnete sie einer Quelle der Ordnung, von höherem Rang als die etablierte Gesellschaftsordnung, und einer Wahrheit, die in kritischer Opposition zu jener Wahrheit stand, zu welcher die Gesellschaft durch die Symbolik ihrer Selbstinterpretation gelangt war. Ferner war das logische Korrelat zur Idee eines universalen Gottes als des Maßes der geöffneten Seele die Idee einer universalen Gemeinschaft der Menschheit, jenseits aller zivilen Gesellschaft, durch die Teilnahme aller Menschen am gemeinsamen Maß, gleichgültig ob dieses als der aristotelische nous oder der stoische oder christliche logos verstanden wird. Die Wucht solcher Entdeckungen kann leicht die Tatsache verdecken, daß die neue Klarheit über die Struktur der Realität diese Struktur selbst nicht verändert hatte. Das Öffnen der Seele kennzeichnete tatsächlich eine Epoche durch ihr Vordringen von der Kompaktheit zur Differenzierung des Erlebens, von Unklarheit zu Klarheit der Einsicht. Aber die Spannung zwischen einer Wahrheit der Gesellschaft und einer Wahrheit der Seele hatte es schon vor dieser Epoche gegeben, und das neue Verstehen der Transzendenz konnte das Bewußtsein der Spannung schärfen, sie aber nicht aus der Seinsverfassung entfernen. Die Idee eines universalen Gottes z. B. erreichte ihre spezifische Reinheit durch die mystischen Philosophen, aber ihre Existenz, eingebettet in einen kompakten kosmologischen Mythos, ist schon durch ägyptische Inschriften etwa aus dem Jahr 3000 v. Chr. zu belegen. Und da selbst zu jener frühen Zeit die Idee im Verlauf einer polemischen, kritischen Spekulation über Hierarchie und Funktion der Götter auftrat, muß schon damals die Spannung zwischen einer Wahrheit, wie sie der spekulierende Denker verstand, und der Wahrheit des überlieferten Mythos bestanden haben. Die stoische Vorstellung von einer Kosmopolis, der die Menschen kraft ihrer Teilhabe am Logos angehören (um ein anderes Beispiel zu geben), hat nicht die Existenz des Menschen in historischen Gesellschaften abgeschafft. Daher ist zu unterscheiden zwischen dem Öffnen der Seele als einer Epoche seelischer Differenzierung und der Struktur der Realität, die unverändert bleibt. (Fs) (notabene)

218a Aus dieser Unterscheidung ergibt sich für das vorliegende Problem, daß die Spannung zwischen einer differenzierten Wahrheit der Seele und der Wahrheit der Gesellschaft in der historischen Realität nicht dadurch beseitigt werden kann, daß man sich der einen oder der anderen Wahrheit entledigt. Die menschliche Existenz in natürlichen Gesellschaften bleibt was sie war, bevor sie sich auf ein jenseits der Natur liegendes Schicksal hinorientierte. Der Glaube ist die Erwartung einer übernatürlichen Perfektion des Menschen; er ist nicht diese Perfektion selbst. Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt; und die Kirche als der Repräsentant der civitas Dei in der Geschichte ist nicht ein Ersatz für die zivile Gesellschaft. Als Ergebnis der epochalen Differenzierung tritt nicht eine offene an die Stelle der geschlossenen Gesellschaft - um mit Bergson zu sprechen -, sondern die Symbolik wird komplizierter, entsprechend der Differenzierung der Erlebnisse. Die beiden Wahrheitstypen existieren nebeneinander, und die zwischen ihnen bestehende Spannung, die bald mehr bald weniger ins Bewußtsein tritt, wird zu einer dauernden Struktur der Zivilisation. Diese Einsicht hatte schon Platon gewonnen; in seinem Werk wird sie in der Evolution von der Politeia zu den Nomoi reflektiert. In der Politeia konstruierte er eine Polis, welche die Mahrheit der Seele unter der unmittelbaren Herrschaft mystischer Philosophen verkörpern sollte; es war ein Versuch, die Spannung dadurch aufzulösen, daß die Ordnung der Seele zur Ordnung der Gesellschaft gemacht wurde. In den Nomoi ließ er die Wahrheit der Seele im Hintergrund ihrer Offenbarung in der Politeia; die Polis der Nomoi gründete er auf Institutionen, welche die Ordnung des Kosmos widerspiegelten, während die Wahrheit der Seele durch Administratoren vermittelt wurde, die sie als Dogma empfingen. Platon selbst, der potentielle Philosophenkönig der Politeia, wurde der athenische Fremdling der Nomoi, der mithalf, Institutionen zu ersinnen, die soviel an Geist verkörperten, als mit der unverändert gebliebenen natürlichen Existenz der Gesellschaft zu vereinbaren war. (Fs) (notabene)

219a Die christlichen Kirchenväter legten nicht den Scharfsinn Platons an den Tag, als ihnen das gleiche Problem durch historische Umstände aufgezwungen wurde. Offenbar begriffen sie nicht, daß das Christentum zwar den Polytheismus verdrängen, nicht aber das Bedürfnis nach einer Ziviltheologie abschaffen konnte. Nachdem die Wahrheit der Seele die Oberhand gewonnen hatte, blieb das Vakuum zurück, das Platon mit seiner Konstruktion der Polis als ein kosmisches Analogon auszufüllen versuchte. Das Ausfüllen dieses Vakuums wurde zu einem Hauptproblem, wo immer das Christentum die vorchristliche Wahrheit einer geschlossenen Gesellschaft als lebendige Kraft auflöste, und wo immer die Kirche an der Seite eines zivilen Herrschers die existentielle Repräsentation erlangte und zusätzlich zu ihrer Repräsentation der übernatürlichen Bestimmung des Menschen auch noch die transzendente Legitimation der Gesellschaftsordnung liefern sollte. Die eine große Lösung war der byzantinische Cäsaropapismus mit seiner Tendenz, die Kirche in eine zivile Institution umzuwandeln. Gegen diese Tendenz schrieb Gelasius Ende des fünften Jahrhunderts seine Briefe und Traktate, in denen er die andere große Lösung, die der zwei im Gleichgewicht befindlichen Mächte formulierte. Dieses Gleichgewicht, funktionierte im Westen, solange das Werk der zivilisatorischen Expansion und Konsolidierung die Interessen der kirchlichen und zivilen Organisationen parallel laufen ließ. Aber die Spannung zwischen den zwei Typen der Wahrheit wurde merklich, sobald ein gewisser Grad kultureller Saturierung erreicht war. Als die Kirche im Gefolge der Cluniazensischen Reform ihre geistige Substanz neu behauptete und versuchte, sich aus ihren vielfältigen zivilen Bindungen zu lösen, war der Investiturstreit die Folge. Aber als die gnostischen Sektiererbewegungen im zwölften Jahrhundert Auftrieb erhielten, arbeitete die Kirche bei der Verfolgung der Häretiker durch die Inquisition mit der Zivilgewalt zusammen; sie neigte bei dieser Gelegenheit stark zu ihrer Funktion als Agent der theologia civilis und wurde dadurch ihrem Wesen als der Repräsentant der civitas Dei in der Geschichte untreu. Die Spannung erreicht schließlich den Zerreißpunkt, als eine Vielzahl schismatischer Kirchen und gnostischer Bewegungen miteinander in heftigen Wettstreit um die existentielle Repräsentation gerieten. Das Vakuum tat sich nun in Gestalt der religiösen Bürgerkriege auf. (Fs) (notabene)

221a Hobbes erkannte, daß ohne eine unbestrittene Ziviltheologie öffentliche Ordnung unmöglich war. Das große Verdienst von bleibendem Wert des Leviathan ist es, diesen Punkt geklärt zu haben. Eine weniger glückliche Hand hatte Hobbes, als er versuchte, das Vakuum durch die Etablierung des Christentums als der englischen Ziviltheologie auszufüllen. Er konnte sich mit diesem Gedanken tragen, da seiner Auffassung nach das Christentum, wenn richtig interpretiert, mit der Wahrheit der Gesellschaft identisch war, wie er sie in den ersten zwei Teilen seines Leviathan entwickelt hatte. Er leugnete die Existenz einer Spannung zwischen der Wahrheit der Seele und der Wahrheit der Gesellschaft. Der Inhalt der Heiligen Schrift fiel seiner Meinung nach substantiell mit der Wahrheit Hobbes' zusammen. In diesem Glauben konnte er der Idee verfallen, eine Krise von weltgeschichtlichen Ausmaßen dadurch zu lösen, daß er seinen Rat als Fachmann jedem Souverän anbot, der ihn anzunehmen gewillt war. "Ich hege einige Hoffnungen", sagte er, "daß eines Tages diese meine Schrift in die Hände eines Souveräns fallen könnte, der sie selbst überdenken wird (denn sie ist kurz und, wie ich meine, klar) ohne Zuhilfenahme eines interessierten oder mißgünstigen Interpreten; und daß er in Ausübung seiner vollen Souveränität ihre öffentliche Verbreitung fördert und auf diese Weise die Wahrheit der Spekulation für die Praxis nutzbar macht." Er fühlte sich in der Rolle eines Platon auf der Suche nach einem König, der die neue Wahrheit annehmen und das Volk in ihr unterweisen würde. (Fs)

222a Die Erziehung des Volkes war ein wesentlicher Teil seines Programmes. Hobbes verließ sich nicht auf die Unterdrückung der religiösen Bewegungen durch Regierungsgewalt; er wußte, daß öffentliche Ordnung nur echt war, wenn das Volk sie aus freiem Willen annahm, und daß die freiwillige Annahme nur dann möglich war, wenn das Volk seinen Gehorsam dem staatlichen Repräsentanten gegenüber als seine Pflicht unter dem ewigen Gesetz auffaßte. Wenn das Volk dieses Gesetz nicht kannte, würde es eine wegen Aufruhrs verhängte Strafe als "feindselige Handlung ansehen, welche es, sobald es sich stark genug fühlt, seinerseits durch feindselige Handlungen abzuwenden versucht". Er bezeichnet es daher als Pflicht des Souveräns, der Unwissenheit des Volkes durch entsprechende Unterweisung abzuhelfen. Wenn das geschähe, bestehe die Hoffnung, daß seine Prinzipien "die Verfassung, wenn nicht von außen her Gewalt verübt wird, zu einer immerwährenden machen werden". Mit diesem Gedanken der Abschaffung der Spannungen der Geschichte durch die Verbreitung einer neuen Wahrheit gibt Hobbes freilich seine eigenen gnostischen Absichten zu erkennen. Sein Versuch, die Geschichte zu einer immerwährenden Verfassung erstarren zu lassen, ist ein Fall der generellen Klasse gnostischer Versuche, die Geschichte in die unveränderliche Form eines immerwährenden Endreiches zu pressen. (Fs)

222b Der Gedanke, die Wirren der Geschichte durch die Einführung einer immerwährenden Verfassung zu lösen, war nur unter der Bedingung sinnvoll, daß die Quelle der Störungen, d. h. die Wahrheit der Seele, den Menschen nicht mehr beunruhigen würde. Hobbes vereinfachte in der Tat die Struktur der Politik, indem er die anthropologische und soteriologische Wahrheit aus ihr entfernte. Das ist ein verständlicher Wunsch für einen Menschen, der seine Ruhe haben will; gewiß wäre alles viel einfacher ohne Philosophie und Christentum. Wie aber kann man sich ihrer entledigen, ohne die Erfahrungen der Transzendenz abzuschaffen, die zur Natur des Menschen gehören? Auch zur Lösung dieses Problems fühlte sich Hobbes durchaus fähig: er verbesserte den von Gott geschaffenen Menschen und schuf einen Menschen ohne solche Erfahrungen. An diesem Punkt betreten wir jedoch die höheren Regionen der gnostischen Traumwelt. Dieses weitere Unterfangen Hobbes' muß in den größeren Zusammenhang der westlichen Krise hineingestellt werden. Und das soll die Aufgabe des letzten Kapitels sein. (Fs)

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