Autor: Voegelin, Eric Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 4a; Gnosis, gnostischer Immanentismus; Menschentyp d. Trugschlusses; Gewissheit (Sinn d. Geschichte) - Ungewissheit (Christentum; Glaube; Hebr 11.1); Übermensch; Typenskala gnost. Verhaltens Kurzinhalt: ... welche spezifische Ungewißheit war so beunruhigend, daß sie mit dem zweifelhaften Mittel trugschlüssiger Immanentisierung überwunden werden mußte? ... Ungewißheit ist das eigentliche Wesen des Christentums. Textausschnitt: 4. Motive des gnostischen Immanentismus
172a Die Analyse kann jetzt auf der prinzipiellen Ebene wieder aufgenommen werden. Der Versuch, ein Eidos der Geschichte zu konstruieren, muß zu der trugschlüssigen Immanentisierung des christlichen Eschaton führen. Das Erkennen des Trügerischen an diesem Versuch wirft jedoch schwierige Fragen hinsichtlich des Menschentyps auf, der sich einer solchen Täuschung hingibt. Der Trugschluß sieht ziemlich elementar aus. Darf ernsthaft angenommen werden, daß die Denker, die ihn vollzogen, nicht intelligent genug waren ihn zu durchschauen? Oder, daß sie ihn zwar durchschaut, aber aus irgendwelchen undurchsichtigen, bösen Motiven dennoch propagiert haben? Die bloße Fragestellung ergibt schon deren Verneinung. Es versteht sich von selbst, daß nicht Dummheit und Trug sieben Jahrhunderte der Geistesgeschichte zu erklären vermögen. Es muß vielmehr angenommen werden, daß in den Seelen dieser Männer ein Drang vorhanden war, der sie für diese Täuschung blind machte. (Fs) (notabene)
172a Die Natur dieses Dranges läßt sich nicht dadurch entdecken, daß man die aus ihm resultierende Fehlkonstruktion einer noch genaueren Analyse unterzieht. Die Aufmerksamkeit muß sich vielmehr auf das konzentrieren, was die Denker mit ihrer Fehlkonstruktion erreicht haben. Darüber kann nun kein Zweifel bestehen: sie erlangten eine Gewißheit über den Sinn der Geschichte und über ihren eigenen Platz in ihr - eine Gewißheit, die sie sonst nie gehabt hätten. Nun besteht ein Bedarf nach Gewißheiten dann, wenn es gilt, Ungewißheiten mit ihrer Begleiterscheinung von Angst zu überwinden. Und die nächste Frage würde dann lauten: welche spezifische Ungewißheit war so beunruhigend, daß sie mit dem zweifelhaften Mittel trugschlüssiger Immanentisierung überwunden werden mußte? Man braucht die Antwort nicht weit zu suchen. Ungewißheit ist das eigentliche Wesen des Christentums. Das Gefühl der Sicherheit in "einer Welt voller Götter" geht mit den Göttern selbst verloren. Durch die De-Divinisation der Welt wird die Kommunikation mit dem welttranszendenten Gott auf die schwache Bindung des Glaubens im Sinne von Hebr 11,1 als der Substanz der erhofften und des Beweises der urgeschauten Dinge beschränkt. Ontologisch ist die Substanz der erhofften Dinge nirgends als im Glauben zu finden; und epistemologisch gibt es für die urgeschauten Dinge keinen anderen Beweis als wiederum diesen Glauben. Das Band ist schwach in der Tat und leicht kann es reißen. Das Leben der zu Gott hin geöffneten Seele, das Warten, die Zeiten der Dürre und Mattigkeit, der Schuld und Betrübnis, der Zerknirschung und Reue, der Verlassenheit und der gläubigen Hoffnung, der stillen Regungen von Liebe und Gnade, zitternd an der Schwelle einer Gewißheit, die, wenn sie gewonnen, ein Verlust ist, - gerade die Schwerelosigkeit dieses Gewebes mag sich als zu schwere Belastung für Menschen erweisen, die auf handfesten Besitz aus sind. Die Gefahr, daß ein Zusammenbruch des Glaubens sozial relevant wird, vergrößert sich nun in dem Maße, als das Christentum im Raum der Welt Erfolg hat. Sie wird also zunehmen, wenn das Christentum - mit der nachdrücklichen Hilfe von Institutionen - einen Kulturkreis gründlich durchdringt und wenn es gleichzeitig einen inneren Prozeß der Spiritualisierung durchmacht, den Prozeß einer gesteigerten Verwirklichung seines Wesens. Je mehr Menschen in den Bannkreis des Christentums gezogen werden, desto größer wird die Zahl derer sein, die nicht die Kraft zu dem heroischen Abenteuer der Seele, das Christentum heißt, besitzen; und die Wahrscheinlichkeit eines Abfalls vom Glauben wird zunehmen, wenn der kulturelle Fortschritt in der Erziehung, der Bildung und der intellektuellen Diskussion einen immer größeren Kreis von Einzelpersonen mit dem ganzen Ernst des Christentums vertraut macht. Diese beiden Prozesse aber kennzeichnen das Hohe Mittelalter. Wir können von den historischen Einzelheiten absehen; es wird genügen, summarisch an die wachsenden städtischen Gemeinschaften mit ihrer intensiven spiritualen Kultur als die Zentren zu erinnern, von denen die Gefahr in die gesamte westliche Gesellschaft ausstrahlte. (Fs) (notabene)
174a Wenn das Verhängnis eines Abfalls vom Glauben im christlichen Sinne als Massenphänomen auftritt, werden die Folgen vom Inhalt der geistigen Kultur abhängen, auf die der Agnostiker zurückfällt. Ein Mensch kann nicht im absoluten Sinne auf sich zurückfallen; wenn er es versuchte, würde er sehr bald herausfinden, daß er in den Abgrund der Verzweiflung und des Nichts gestürzt ist. Er muß auf eine weniger differenzierte Kultur geistiger Erfahrungen zurückfallen. Der kulturelle Stand des zwölften Jahrhunderts machte es unmöglich, in den griechisch-römischen Polytheismus zurückzufallen, weil dieser als lebendige Kultur einer Gesellschaft verschwunden war. Und die verstümmelten Reste konnten kaum nochmals zum Leben erweckt werden, weil sie ihren Zauber gerade für die Menschen eingebüßt hatten, die mit dem Christentum in Berührung gekommen waren. Der Abfall konnte nur durch die Möglichkeit neuer Erfahrungen aufgefangen werden, die dem Erlebnis des Glaubens so nahe standen, daß nur ein scharfes Auge den Unterschied erkennen würde, die aber dennoch weit genug von ihm entfernt waren, um der Ungewißheit des Glaubens im strengen Sinne abzuhelfen. Solche Möglichkeiten neuer Erfahrungen boten sich in der Gnosis, die das Christentum von seinen ersten Anfängen an begleitet hat. (Fs)
175a Der Plan dieser Abhandlung gestattet es nicht, eine Beschreibung der Gnosis des Altertums oder der Geschichte ihrer Kontinuität in das westliche Mittelalter zu geben. Es mag hier die Feststellung genügen, daß die Gnosis damals eine lebendige religiöse Kultur war, auf welche die Menschen zurückfallen konnten. Der Versuch, den Sinn der Existenz zu immanentisieren, ist im Grunde ein Versuch, unsere Kenntnis der Transzendenz fester in den Griff zu bekommen, als die cognitio fidei, die Erkenntnis des Glaubens es uns gestattet. Die gnostischen Erfahrungen gewähren diesen festeren Griff, insofern als sie die Seele bis zu dem Punkte ausweiten, an welchem Gott in die menschliche Existenz hineingezogen wird. Diese Ausweitung erfordert die Beteiligung der verschiedenen menschlichen Fähigkeiten; und es ist daher möglich, eine Typenskala von gnostischen Varianten zu unterscheiden je nachdem, welche Fähigkeit bei der Bemühung, Gott in den Griff zu bekommen, vorwiegend beteiligt war. Gnosis kann vornehmlich intellektuell sein und die Form einer spekulativen Durchdringung des Mysteriums der Schöpfung und Existenz annehmen, wie beispielsweise in der kontemplativen Gnosis Hegels oder Schellings; oder sie kann vornehmlich emotional sein und die Form des Innewohnens göttlicher Wesenskraft in der menschlichen Seele annehmen, wie z. B. bei parakletischen Sektiererführern; oder sie kann vornehmlich willensmäßig sein und die Form aktivistischer Erlösung von Mensch und Gesellschaft annehmen, wie im Falle der revolutionären Aktivisten Comte, Marx oder Hitler. Die gnostischen Erfahrungen in der ganzen Skala ihrer Varianten sind der Kern der Re-Divinisation der Gesellschaft, denn die Menschen vergotten sich selbst, wenn sie solchen Erfahrungen verfallen, und setzen die massiveren Arten der Teilhabe an der Göttlichkeit an die Stelle des Glaubens im christlichen Sinne. (Fs) (notabene) ____________________________
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