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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 3; Joachim v. Fiore - Augustinus; Immanentisierung (Eidos) d. Geschichte (teleologische, axiologische Komponente); "vom Humanismus zur Aufklärung"; Säkularisierung

Kurzinhalt: Das Problem eines Eidos in der Geschichte tritt erst auf, wenn die christliche transzendente Erfüllung immanentisiert wird. Eine solche immanentistische Hypostase des Eschaton ist jedoch ein theoretischer Trugschluß.

Textausschnitt: 3 Der theorethische Gehalt der neuen Symbole

167a Aus der Darstellung joachitischer Symbole, aus dem kursorischen Überblick über ihre späteren Varianten und aus ihrer Verschmelzung mit der politischen Apokalypse des Dritten Rom dürfte klar geworden sein, daß die neue Eschatologie das Gefüge der modernen Politik entscheidend beeinflußt. Sie hat eine scharf umrissene Symbolik hervorgebracht, mit deren Hilfe die westlichen politischen Gesellschaften den Sinn ihrer Existenz interpretieren; und die Anhänger der einen oder anderen Variante bestimmen die Artikulierung der Gesellschaft sowohl im Innern wie auch auf der Weltbühne. Bis zu diesem Punkt wurde jedoch die Symbolik auf der Ebene der Selbstinterpretation betrachtet und als ein historisches Phänomen beschrieben. Sie muß jetzt einer kritischen Analyse ihrer Hauptaspekte unterzogen werden, und der Grund für diese Analyse muß durch die Formulierung der theoretisch relevanten Frage gelegt werden. (Fs)

167b Die joachitische Eschatologie ist ihrem Gegenstand nach eine Spekulation über den Sinn der Geschichte. Um die spezifische Differenz zu bestimmen, muß sie der zu Joachims Zeit traditionell-christlichen Geschichtsphilosophie gegenübergestellt werden, d. h. der augustinischen Spekulation. In die traditionelle Spekulation war die jüdisch-christliche Idee von einem Ende der Geschichte im Sinne eines Zustandes der Vollkommenheit eingedrungen. Die Geschichte bewegte sich nicht mehr in Zyklen wie bei Platon und Aristoteles; sondern hatte Richtung und Ziel gewonnen. Über den jüdischen Messianismus im strengen Sinne hinaus drang dann die spezifisch christliche Geschichtsauffassung zum Begreifen des Endes als einer transzendenten Erfüllung vor. Bei seiner Ausarbeitung dieser theoretischen Einsicht unterschied Augustinus zwischen einer Profan-Geschichte, in der die Reiche entstehen und vergehen, und einer Heilsgeschichte, die in der Erscheinung Christi und der Gründung der Kirche ihren Höhepunkt erreicht. Die Heilsgeschichte baute er ferner in die transzendentale Geschichte der Civitas Dei ein, welche die Geschehnisse in der Sphäre der Engel sowie den transzendenten ewigen Sabbath miteinschließt. Nur diese transzendente Geschichte, einschließlich der irdischen Pilgerschaft der Kirche, ist auf ihre eschatologische Erfüllung hin ausgerichtet. Die Profangeschichte hingegen hat keine solche Ausrichtung. Sie ist ein Warten auf das Ende. Ihre gegenwärtige Seinsform ist die eines saeculum senescens, eines vergreisenden Zeitalters. (Fs) (notabene)

168a Zur Zeit Joachims erlebte die westliche Kultur eine starke Aufwärtsentwicklung. Und ein Zeitalter, das seine Muskeln zu spüren begann, war nicht geneigt, den augustinischen Defaitismus, was die weltliche Sphäre der Existenz anbelangt, ohne weiteres hinzunehmen. Die joachitische Spekulation war ein Versuch, dem immanenten Lauf der Geschichte einen Sinn zu verleihen, den sie in der augustinischen Konzeption nicht hatte. Zu diesem Zweck verwandte Joachim, was zur Hand war, und das war der Sinn der transzendenten Geschichte. In diesem ersten westlichen Versuch einer Immanentisierung des Sinnes der Geschichte ging der Zusammenhang mit dem Christentum nicht verloren. Das neue Zeitalter des Joachim brachte eine Steigerung der Erfüllung innerhalb der Geschichte, aber diese Steigerung wurde nicht durch einen weltimmanenten Ausbruch hervorgerufen, sondern durch einen transzendentalen Einbruch des Geistes. Der Gedanke einer radikal immanenten Erfüllung wuchs nur sehr allmählich in einem langwierigen Prozeß, den man kurz unter den Titel "vom Humanismus zur Aufklärung" bringen kann. Erst im achtzehnten Jahrhundert war mit dem Fortschrittsglauben die Steigerung des Sinngehaltes in der Geschichte zu einem völlig innerweltlichen Phänomen ohne transzendentale Einbrüche geworden. Diese zweite Phase der Immanentisierung soll "Säkularisierung" genannt werden. (Fs) (notabene)

169a Aus der joachitischen Immanentisierung ergibt sich ein theoretisches Problem, das weder im Altertum noch im orthodoxen Christentum vorkommt, nämlich das Problem eines Eidos in der Geschichte. In der hellenistischen Spekulation haben wir zwar auch ein Problem des Wesens in der Politik: die Polis hatte sowohl für Platon als für Aristoteles ein Eidos. Aber die Aktualisierung dieses Wesens wird vom Rhythmus des Aufstiegs und Niedergangs beherrscht, und die rhythmische Verkörperung und Entkörperung des Wesens in der politischen Wirklichkeit ist das Mysterium der Existenz. Es ist nicht ein zusätzliches Eidos. Die soteriologische Wahrheit des Christentums bricht dann mit dem Rhythmus der Existenz. Jenseits von temporalen Erfolgen und Mißerfolgen liegt die übernatürliche Bestimmung des Menschen, die Vollendung durch die Gnade im Jenseits. Mensch und Menschheit haben jetzt eine Erfüllung, aber sie liegt jenseits der Natur. Auch hier gibt es also kein Eidos der Geschichte, weil die eschatologische Übernatur keine Natur im philosophischen, imnhanenten Sinne ist. Das Problem eines Eidos in der Geschichte tritt erst auf, wenn die christliche transzendente Erfüllung immanentisiert wird. Eine solche immanentistische Hypostase des Eschaton ist jedoch ein theoretischer Trugschluß. Denn Dinge sind nicht Dinge, noch haben sie ein Wesen, durch willkürliche Erklärungen. Der Ablauf der Geschichte als Ganzes ist kein Gegenstand der Erfahrung; die Geschichte hat kein Eidos, weil der Ablauf der Geschichte sich in die unbekannte Zukunft erstreckt. Der Sinn der Geschichte ist also eine Illusion; und dieses illusorische Eidos wird dadurch geschaffen, daß man ein Glaubenssymbol so behandelt, als wäre es eine Aussage über einen Gegenstand immanenter Erfahrung. (Fs) (notabene)

170a Der trugschlüssige Charakter eines Eidos der Geschichte wurde prinzipiell aufgezeigt - aber die Analyse kann und muß noch einige Schritte weiter in die Einzelheiten geführt werden. Die christliche Symbolik der übernatürlichen Bestimmung besitzt eine theoretische Struktur, und diese Struktur bleibt in den Varianten der Immanentisierung erhalten. Die Heiligung des Lebens ist eine Bewegung auf ein Telos, ein Ziel zu; und das Ziel, die selige Schau, ist ein Zustand der Vollkommenheit. In der christlichen Symbolik sind also zu unterscheiden die Bewegung als ihre theologische Komponente, und ein Zustand höchsten Wertes als ihre axiologische Komponente.1 Die beiden Komponenten treten in den Varianten der Immanentisierung wieder auf; und diese können dementsprechend als Varianten klassifiziert werden, die entweder die teleologische oder die axiologische Komponente betonen oder sie beide in ihrer Symbolik kombinieren. Im ersten Falle, in dem der Nachdruck auf der Bewegung ohne Klarheit über die letzte Vollendung liegt, wird das Ergebnis die progressivistische Geschichtsauffassung sein. Das Ziel bedarf keiner Klarstellung: progressivistische Denker, wie Diderot oder d'Alembert, nehmen eine Auswahl wünschenswerter Faktoren zum Maßstab und interpretieren den Fortschritt als qualitative und quantitative Zunahme des gegenwärtigen Guten - als "the bigger and better", wie ein simplifizierendes Schlagwort es ausdrückt. Das ist eine konservative Haltung, die sogar zu einer reaktionären werden kann, wenn der ursprüngliche Maßstab nicht der wechselnden historischen Situation angepaßt wird. Im zweiten Falle, wenn der Nachdruck auf dem Zustand der Vollkommenheit, ohne Klarheit über die zu seiner Verwirklichung erforderlichen Mittel liegt, wird das Ergebnis der Utopismus sein. Er kann die Gestalt einer axiologischen Traumwelt annehmen wie in der Utopia des Thomas Morus, wenn der Denker sich noch bewußt ist, daß und weshalb sein Traum sich nicht verwirklichen läßt; oder, bei größerer theoretischer Unwissenheit, kann er die Gestalt verschiedener sozialer Idealismen annehmen, wie etwa der Abschaffung des Krieges, der ungleichen Verteilung des Eigentums, der Furcht und der Not. Schließlich kann sich die Immanentisierung auf die integrale christliche Symbolik erstrecken. Das Ergebnis wird dann die aktive Mystik eines Zustandes der Vollkommenheit sein, der durch eine revolutionäre Verklärung der menschlichen Natur erzielt werden soll, wie zum Beispiel im Marxismus. (Fs)

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