Autor: Voegelin, Eric Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Stichwort: Repräsentation im Römischen Reich 1; 3 Wahrheitstypen: kosmologisch, anthropologisch, soteriologisch; christlicher Typ; amicitia (philia politike; homonoia; Freundschaft: Gott - Mensch); amicitia; amor sui, amor dei; Substanz d. Geschichte Kurzinhalt: Die kritische Autorität gegenüber der älteren Wahrheit der Gesellschaft, welche die Seele durch ihr Öffnen und ihr Hinwenden zu dem unsichtbaren Maß erlangt hatte, wurde jetzt durch die Offenbarung des Maßes selbst bestätigt. Textausschnitt: III. Der Kampf um die Repräsentation im Römischen Reich
1. Theoretische Vorbemerkungen
112a Die vorangegangene Untersuchung hat gezeigt, daß die Probleme der Repräsentation durch die innere Artikulierung einer Gesellschaft zu historischer Existenz nicht erschöpft waren. Die Gesellschaft als Ganzes erwies sich als Repräsentant einer transzendenten Wahrheit, so daß der Begriff der Repräsentation im existentiellen Sinne durch einen Begriff der transzendenten Repräsentation ergänzt werden mußte. Auf dieser neuen Ebene der Problematik ergab sich dann eine weitere Komplikation durch die Entwicklung der Theorie als einer Wahrheit vom Menschen, die mit der von der Gesellschaft repräsentierten Wahrheit im Wettstreit lag. Aber auch diese Komplikation ist noch nicht die letzte. Das Feld wetteifernder Wahrheitstypen wird historisch erweitert durch das Erscheinen des Christentums. Alle drei Typen beteiligen sich an dem großen Kampf um das Monopol der existentiellen Repräsentation im römischen Reich. Dieser Streit soll das Thema der vorliegenden Untersuchung bilden. Ehe wir jedoch auf den Gegenstand selbst eingehen, müssen einige terminologische und allgemeine theoretische Punkte geklärt werden. Dieses Vorgehen, welches die allgemeinen Fragen ausklammert, soll lästige Abschweifungen und Erklärungen vermeiden, die sonst die eigentliche politische Studie unterbrechen müßten, wenn die Fragen akut werden. (Fs) (notabene)
112b Terminologisch wird zwischen drei Wahrheitstypen zu unterscheiden sein. Der erste dieser Typen ist die von den frühen Reichen repräsentierte Wahrheit; sie soll "kosmologische Wahrheit" genannt werden. Der zweite Wahrheitstypus erscheint in der politischen Kultur Athens, insbesondere in der Tragödie; er soll "anthropologische Wahrheit" genannt werden - wobei sich versteht, daß diese Bezeichnung den Gesamtbereich der mit der Psyche als Sensorium der Transzendenz zusammenhängenden Probleme umschließt. Der dritte Wahrheitstypus, der mit dem Christentum erscheint, soll als "soteriologische Wahrheit" bezeichnet werden. (Fs)
113a Die terminologische Unterscheidung zwischen dem zweiten und dritten Typus ist theoretisch notwendig, weil der platonisch-aristotelische Erfahrungskomplex in einem entscheidenden Punkt durch das Christentum erweitert wurde. Dieses Unterscheidungsmerkmal läßt sich vielleicht am besten herausstellen, indem wir kurz den aristotelischen Begriff der philia politike, der politischen Freundschaft, betrachten. Diese Freundschaft ist für Aristoteles die Substanz der politischen Gesellschaft. Sie besteht in der homonoia, der geistigen Übereinstimmung zwischen Menschen. Sie ist zwischen Menschen nur insofern möglich, als diese in Übereinstimmung mit dem nous, d. h. mit dem Göttlichsten in ihnen leben. Alle Menschen haben teil am nous, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, so daß die Liebe zu ihrem noetischen Selbst den nous zu dem sie vereinigenden Band macht. Nur sofern die Menschen durch die Liebe zu ihrem noetischen Selbst einander gleich sind, ist Freundschaft möglich; die soziale Bindung zwischen Ungleichen wird schwach sein. Aufgrund dieses Arguments formulierte Aristoteles seine These, daß Freund schaft zwischen Gott und Mensch wegen ihrer radikalen Ungleichheit unmöglich sei. (Fs) (notabene)
114a Die Unmöglichkeit der philia zwischen Gott und Mensch kann als typisch für den Gesamtbereich anthropologischer Wahrheit betrachtet werden. Die Erfahrungen, die von den mystischen Philosophen in einer Theorie vom Menschen ausgelegt wurden, betonten alle die menschliche Seite der Orientierung der Seele zur Gottheit. Die Seele wendet sich einem Gott zu, der in seiner unbeweglichen Transzendenz verharrt; sie bewegt sich auf die göttliche Realität zu, trifft aber auf keine antwortende Bewegung aus dem Jenseits. Das christliche Hinneigen Gottes zur Seele in der Gnade ereignet sich nicht im Bereich dieser Erfahrungen - wenn man auch bei der Lektüre Platons das Gefühl hat, an der Schwelle eines Durchbruchs in diese neue Dimension zu stehen. Die Erfahrung einer wechselseitigen Beziehung mit Gott, der amicitia im thomistischen Sinne, der Gnade, die der Natur des Menschen eine übernatürliche Form auflegt, ist der spezifische Unterschied der christlichen Wahrheit gegenüber der anthropologischen. Die Offenbarung dieser Gnade in der Geschichte durch die Inkarnation des Logos in Christus erfüllte erkennbar die auf den Advent gerichtete Bewegung des Geistes bei den mystischen Philosophen. Die kritische Autorität gegenüber der älteren Wahrheit der Gesellschaft, welche die Seele durch ihr Öffnen und ihr Hinwenden zu dem unsichtbaren Maß erlangt hatte, wurde jetzt durch die Offenbarung des Maßes selbst bestätigt. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß das Faktum der Offenbarung ihr Inhalt ist. (Fs) (notabene)
115a Wenn man solcherart über die Erfahrungen der mystischen Philosophen und ihre Erfüllung durch das Christentum spricht, so wird dabei eine Annahme über die Geschichte impliziert, die genauerer Darlegung bedarf. Es ist die Annahme, daß die Substanz der Geschichte in den Erfahrungen besteht, durch die der Mensch das Verständnis seiner Menschlichkeit und gleichzeitig das Verständnis ihrer Grenzen gewinnt. Philosophie und Christentum haben dem Menschen die Statur verliehen, die ihn befähigt, mit historischer Wirksamkeit die Rolle des rationalen Betrachters und pragmatischen Beherrschers einer Natur zu spielen, die ihre dämonischen Schrecken verloren hat. Mit gleicher historischer Wirksamkeit wurden der menschlichen Größe jedoch Grenzen gesetzt, insofern das Christentum alle Dämonie in die permanente Gefahr eines Abfalls vom Geist (dem Geist, der des Menschen nur durch die Gnade Gottes ist), in die Autonomie seines eigenen Selbst, zusammenballte, eines Abfalls vom amor Dei in den amor sui. Die Erkenntnis, daß der Mensch in seiner bloßen Menschlichkeit, ohne die fides caritate formata, dämonische Nichtigkeit ist, wurde vom Christentum zu jener letzten Klarheit gebracht, die traditionell als Offenbarung bezeichnet wird. (Fs) (notabene)
Kommentar (10/26/04): amor sui -> cf 1. E. Beckers causa sui; cf 2 Kierkegaard über Dämonie als Verschlossenheit in: Begriff der Angst
115b Diese Annahme über die Substanz der Geschichte zieht nun für eine Theorie von der menschlichen Existenz in der Gesellschaft Folgen nach sich, gegen deren vorbehaltlose Anerkennung unter dem Einfluß einer säkularisierten Kultur selbst namhafte Philosophen bisweilen Bedenken tragen. Wir haben z. B. gesehen, daß Karl Jaspers das Zeitalter der mystischen Philosophen als Achsenzeit der Menschheit ansah, von höherem Rang als die Zäsur des Christentums, und die letzte Klarheit über die conditio humana, die das Christentum gebracht hat, geflissentlich beiseite schob. Auch Henri Bergson hatte in der gleichen Frage Bedenken - wenn er auch in seinen letzten, von Sertillanges posthum veröffentlichten Gesprächen geneigt schien, die Konsequenz aus seiner eigenen Geschichtsphilosophie zu ziehen. Diese Konsequenz läßt sich als das Prinzip formulieren, daß eine Theorie von der menschlichen Existenz in der Gesellschaft innerhalb des Mediums von Erfahrungen, die sich historisch differenziert haben, operieren muß. Es besteht eine strenge Wechselbeziehung zwischen der Theorie von der menschlichen Existenz und der historischen Differenzierung von Erfahrungen, in welchen diese Existenz ihr Selbstverständnis erlangt hat. Weder ist es dem Theoretiker gestattet, irgendeinen Teil dieser Erfahrung, gleichgültig aus welchem Grunde, beiseite zu schieben; noch kann er seinen Standort auf einem archimedischen Punkt außerhalb der Substanz der Geschichte beziehen. Die Theorie ist durch die Geschichte im Sinne der differenzierenden Erfahrungen gebunden. Da das Höchstmaß an Differenzierung durch die griechische Philosophie und das Christentum erreicht wurde, bedeutet dies konkret, daß die Theorie sich notwendig innerhalb des historischen Horizontes klassischer und christlicher Erfahrungen bewegen muß. Ein Zurückweichen vom Höchstmaß der Differenzierung bedeutet einen theoretischen Rückschritt, der zu den Entgleisungen verschiedener Art führt, die Platon als doxa charakterisiert hat. jedesmal wenn in der modernen Geistesgeschichte eine systematische Revolte gegen das Höchstmaß an Differenzierung unternommen wurde, war das Ergebnis der Sturz in einen antichristlichen Nihilismus, in die Idee des Übermenschen in der einen oder anderen seiner Varianten - sei es der progressivistische Übermensch Condordets, der positivistische Übermensch Comtes, der materialistische Übermensch Marx' oder der dionysische Übermensch Nietzsches. Das Problem der antitheoretischen Entgleisung wird jedoch im -zweiten Teil dieser Studien eingehender behandelt werden, in der Abhandlung über die modernen politischen Massenbewegungen. Das Prinzip der Wechselbeziehung zwischen der Theorie und der maximalen Differenzierung von Erfahrungen, das die folgende Analyse beherrschen wird, dürfte für den gegenwärtigen Zweck genügend klar geworden sein. (Fs) (notabene) ____________________________
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