Autor: Voegelin, Eric Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Stichwort: Repräsentation und Wahrheit 5; Theorie: Sinn der Existenz (Aristoteles, spoudaios); Ethik: typologische Studie des spoudaios; Theorie - Leugnung; thanatos, eros und dike; Liebe, Hoffnung und Glaube (Heraklit, Paulus) Kurzinhalt: Theorie ist ... , den Sinn der Existenz durch die Auslegung einer bestimmten Klasse von Erfahrungen zu gewinnen... Eine theoretische Debatte kann also nur unter spoudaioi im aristotelischen Sinne geführt werden. Die Theorie hat kein Argument gegen ... Textausschnitt: 5. Repräsentation und Artikulierung der Gesellschaft
96a Damit wäre der entscheidende Punkt erreicht, an dem die Bedeutung von "Theorie" sichtbar wird. Theorie ist nicht ein beliebiges Meinen über die menschliche Existenz in Gesellschaft; sie ist vielmehr ein Versuch, den Sinn der Existenz durch die Auslegung einer bestimmten Klasse von Erfahrungen zu gewinnen. Ihr Argument ist nicht willkürlich, sondern leitet seine Gültigkeit von dem Aggregat von Erfahrungen her, auf das sie sich ständig zur empirischen Kontrolle beziehen muß. Aristoteles war der erste Denker, der dies als Bedingung des Theoretisierens über den Menschen erkannte. Er prägte einen Ausdruck für den Menschen, dessen Charakter von dem Aggregat der betreffenden Erfahrungen geformt ist, und nannte ihn den spoudaios, den reifen Mann. Der spoudaios ist der Mann, der die Möglichkeiten der menschlichen Natur im höchsten Grade aktualisiert hat, dem es zur Gewohnheit geworden ist, seinen Charakter ganz auf die Aktualisierung der dianoetischen und ethischen Tugenden hin zu formen, der Mann, der auf der Höhe seiner Entwicklung fähig ist zum bios theoretikos. Die Wissenschaft der Ethik im aristotelischen Sinne ist daher eine typologische Studie des spoudaios. Darüber hinaus war sich Aristoteles der praktischen Folgen einer solchen Theorie vom Menschen voll bewußt. Erstens kann nicht jedermann Theorie entwickeln. Der Theoretiker muß zwar nicht selbst ein Paragon der Tugend sein, er muß aber zumindest die Fähigkeit besitzen, die Erfahrungen, die in der Theorie expliziert werden, im Geiste nachzuerleben; und diese Fähigkeit kann nur unter bestimmten Bedingungen entwickelt werden. Es muß die Neigung zur theoretischen Arbeit vorhanden sein; ferner die wirtschaftliche Basis, die den Aufwand jahrelanger Arbeit für Studien dieser Art gestattet; und schließlich ein gesellschaftliches Milieu, das den Menschen, wenn er sich diesem Studium hingibt, nicht unterdrückt. Zweitens ist Theorie als die Auslegung gewisser Erfahrungen nur für solche Menschen verständlich, in denen die Auslegung gleichgeartete Erlebnisse wachruft, welche dann die empirische Basis für eine Nachprüfung des Wahrheitsgehalts der Theorie liefern. Denn wenn theoretische Darlegung die entsprechenden Erlebnisse nicht zumindest bis zu einem gewissen Grad aktiviert, wird sie den Eindruck leeren Geredes erwecken oder sie wird als irrelevanter Ausdruck subjektiver Meinungen abgelehnt werden. Eine theoretische Debatte kann also nur unter spoudaioi im aristotelischen Sinne geführt werden. Die Theorie hat kein Argument gegen einen Menschen, der sich in der Tat außerstande fühlt oder zumindest behauptet, er fühle sich außerstande, die Erfahrung nachzuerleben. Historisch wird daher die Entdeckung theoretischer Wahrheit in der sozialen Umwelt keineswegs sicher Zustimmung finden. Aristoteles machte sich hierüber keine Illusionen. In der Politik VII-VIII versuchte er, gleich Platon, eine paradigmatische Sozialordnung zu konstruieren, in welcher sich die Wahrheit des spoudaios ausdrücken sollte; aber gleichzeitig hielt er doch an der Ansicht fest, daß in keiner der hellenischen Poleis seiner Zeit auch nur hundert Menschen lebten, die imstande wären, die Führungsschicht einer solchen Gesellschaft zu bilden, so daß es völlig aussichtslos wäre, einen Versuch der Verwirklichung zu unternehmen. Sozialpraktisch scheint die Theorie also in eine Sackgasse zu führen. (Fs) (notabene)
98a Eine Untersuchung der genannten Erfahrungen ist in diesem Zusammenhang unmöglich. Das Gebiet ist so ausgedehnt, daß auch ein ausführlicher Überblick nur eine peinliche Unzulänglichkeit bliebe. Nur eine knappe Aufzählung kann gegeben werden, um die historischen Kenntnisse aufzufrischen. Zu der schon erwähnten Liebe zum sophon mögen nun die Varianten des platonischen Eros zum kalon und zum agathon hinzugefügt werden sowie die platonische dike, die Tugend der rechten Über- und Unterordnung der Seelenkräfte, die den Gegensatz zur sophistischen polypragmosyne bildet. Zweitens muß die Erfahrung des thanatos, des Todes, mit einbezogen werden als die kathartische Erfahrung der Seele, die das menschliche Verhalten abklärt, indem sie es in die längste aller langfristigen Perspektiven, die des Todes, stellt. Unter dem Aspekt des Todes wird für Platon das Leben des philosophischen Menschen zur Praxis des Sterbens; die Seelen der Philosophen sind tote Seelen - im Sinne des Gorgias; und wenn der Philosoph als Repräsentant der Wahrheit spricht, tut er dies mit der Autorität des Todes über die Kurzsichtigkeit des Lebens. Den drei fundamentalen Kräften von thanatos, eros und dike sollten - immer noch innerhalb der platonischen Rangfolge - die Erfahrungen angereiht werden, in welchen die innere Dimension der Seele in ihrer Höhe und Tiefe gegeben ist. Die Höhendimension führt durch den mystischen Aufstieg, die via negativa, der Grenze der Transzendenz entgegen - das Thema des Symposion. Die Tiefendimension wird durch den anamnetischen Abstieg ins Unbewußte erforscht, in jene Tiefe, aus der die "wahren logoi" des Timaios und des Kritias heraufgeholt werden. (Fs)
99a Die Entdeckung und Erforschung dieser Erfahrungen begann Jahrhunderte vor Platon und wurde nach ihm weitergeführt. So hat beispielsweise das platonische Hinabsteigen in die Tiefe der Seele Erfahrungen differenziert, die durch Heraklit und Aischylos erforscht wurden; und der Name des Heraklit erinnert uns daran, daß der Epheser bereits die Dreiheit von Liebe, Hoffnung und Glaube entdeckt hatte, welche in der Dreiheit von Erfahrungen bei Paulus wieder auftritt. Für seine via negativa konnte Platon auf die Mysterien zurückgreifen sowie auch auf die Beschreibung des Weges zur Wahrheit, die Parmenides in seinem Lehrgedicht gegeben hatte. Ferner sollte als dem platonischen Bereich nahestehend noch die aristotelische philia erwähnt werden, der Erlebniskern wahrer Gemeinschaft zwischen reifen Menschen; und diese aristotelische Liebe zum noetischen Selbst greift ihrerseits wieder zurück auf die heraklitische Gemeinschaft der Menschheit im Logos. (Fs) ____________________________
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