Autor: Voegelin, Eric Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Stichwort: Repräsentation und Wahrheit 4; Platon: Polis -> Mensch großgeschrieben (man writ large); Entsprechung: Gesellschaft - Typus von Mensch (Athen - Sophist) Kurzinhalt: ... Prinzip besagt es, daß jede Gesellschaft in ihrer Ordnung den Typus der Menschen reflektiert, aus denen sie sich zusammensetzt: ... [Theoretiker] ... wird es eine seiner ersten ... Aufgabe[n] sein, den Menschentypus zu ermitteln, der sich ... Textausschnitt: 4. Polis writ large1
93a Der Satz Platons, daß die Polis der großgeschriebene Mensch sei, ist wohl allgemein bekannt.3 Die Formel, darf man sagen, ist das Glaubensbekenntnis des neuen Zeitalters. Zwar ist sie Platons erstes Wort in der Sache und bei weitem nicht sein letztes. Aber wenn das Prinzip auch durch die Einführung anderer eingeschränkt werden muß, und wenn auch der kosmologischen Interpretation und der Wahrheit, die in ihr steckt, Zugeständnisse gemacht werden müssen, so ist es dennoch das dynamische Lebenszentrum der neuen Theorie. Der Keil dieses Prinzips muß immer wieder in die Idee getrieben werden, daß die Gesellschaft nichts repräsentiere als kosmische Wahrheit, heute noch genau so wie zur Zeit Platons. Eine existente politische Gesellschaft muß ein geordnetes Kosmion sein, aber nicht auf Kosten des Menschen; sie soll nicht nur ein Mikrokosmos sein, sondern auch ein Makroanthropos. Dieses Prinzip Platons werden wir in der Folge kurz das anthropologische Prinzip nennen. (Fs)
93b Zwei Aspekte dieses Prinzips müssen auseinandergehalten werden. Unter dem ersten Aspekt ist es ein allgemeines Prinzip zur Interpretation der Gesellschaft. Unter dem zweiten ist es ein Instrument der Sozialkritik. (Fs)
93c Als allgemeines Prinzip besagt es, daß jede Gesellschaft in ihrer Ordnung den Typus der Menschen reflektiert, aus denen sie sich zusammensetzt: kosmologische Reiche z. B. bestehen aus Menschen, welche die Wahrheit ihrer Existenz als Harmonie mit dem Kosmos erfahren. Es handelt sich um ein heuristisches Prinzip erster Ordnung; denn wenn der Theoretiker eine politische Gesellschaft zu verstehen sucht, wird es eine seiner ersten, wenn nicht die erste Aufgabe sein, den Menschentypus zu ermitteln, der sich in der Ordnung dieser konkreten Gesellschaft ausdrückt. Platon verwandte sein Prinzip unter diesem ersten Aspekt, als er die Athenische Gesellschaft, in der er lebte, als den großgeschriebenen Sophisten bezeichnete und die Besonderheiten der Athenischen Ordnung auf den gesellschaftlich vorherrschenden Typus des Sophisten zurückführte.4 Er verwandte es ferner im gleichen Sinne, als er seine Polis der Idee als paradigmatische Konstruktion einer Sozialordnung entwickelte, in der sein philosophischer Menschentypus Ausdruck finden sollte.5 Schließlich verwandte er es, wiederum unter diesem ersten Aspekt, als er in Politeia VIII-IX die Veränderungen der politischen Ordnung als Ausdruck der Veränderungen im gesellschaftlich vorherrschenden Menschentypus interpretierte.6 (Fs) (notabene)
94a Untrennbar mit diesem ersten Aspekt verbunden ist die Verwendung des Prinzips als Instrument der Geseltschaftskritik. Daß Unterschiede in der Sozialordnung überhaupt als Unterschiede menschlicher Typen in den Blick kommen, ist der Entdeckung der Ordnung der menschlichen Psyche zuzuschreiben und dem Wunsch, die richtige Ordnung in der Gesellschaft des Entdeckers Gestalt werden zu lassen. Nun wird eine Wahrheit niemals im leeren Raum entdeckt, sie ist vielmehr ein Differenzierungsakt in einem dichtbesetzten Feld von Meinungen; und wenn die Entdeckung die Wahrheit der menschlichen Existenz betrifft, so wird sie die Umwelt auf breiter Front in ihren festesten Überzeugungen erschüttern. Sobald der Entdecker sie mitteilt, um Zustimmung wirbt, zu überzeugen versucht, wird er unvermeidlich auf Widerstand stoßen, der, wie im Falle des Sokrates, tödlich werden kann. So wie in den kosmologischen Reichen der Feind als Repräsentant der Lüge entdeckt wird, so wird jetzt durch die Erfahrung des Widerstandes und Konflikts der Gegner als Repräsentant des Unwahren, des Falschen, des Pseudos7 in Sachen der Seele entdeckt. Darum entwickelt Platon seine Typen nicht als einen Katalog menschlicher Varianten, sondern unterscheidet sie als den einen Typus des wahren Menschentums von den mehreren Typen der seelischen Unordnung. Der Typ des wahren Menschen ist der Philosoph, während der Sophist zum Prototyp der Unordnung wird.8 (Fs) (notabene)
95a Die Identifizierung des wahren Typus mit dem Philosophen muß wohl verstanden werden, da heute seine Bedeutung durch modernistische Vorurteile verdunkelt wird. Heute, im Rückblick auf die Geschichte der Philosophie, ist Platons Philosophie zu einer von vielen geworden. Es war jedoch nicht die Absicht Platons, mit seiner Theorie eine Philosophie vom Menschen zu entwickeln. Platon befaßte sich konkret mit der Erforschung der menschlichen Seele, und die wahre Ordnung der Seele erwies sich als abhängig von der Philosophie im strengen Sinne, von der Liebe zum göttlichen sophon.9 Dieser Sinn war noch lebendig bei Augustinus, wenn er den griechischen philosophos als den amator sapientiae in sein Latein übertrug.10 Die Wahrheit der Seele sollte durch ihre liebende Hinwendung zum sophon erreicht werden. Die wahre Ordnung des Menschen liegt also in einer Seelenkonstitution durch gewisse Erfahrungen, die so stark vorherrschen, daß sie den Charakter formen. Die wahre Seelenordnung in diesem Sinne liefert den Maßstab für das Messen und Klassifizieren der empirischen Mannigfaltigkeiten menschlicher Typen wie auch der Gesellschaftsordnungen, in denen sie Ausdruck finden. (Fs) (notabene) ____________________________
|