Autor: Voegelin, Eric Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Stichwort: Max Weber; Restauration d. Wissenschaft d. Politik; moderner Irrationalismus; Wandlungen im religiösen Erleben Kurzinhalt: Was Weber in der Nachfolge Comtes als modernen Rationalismus auffaßte, müßte neu interpretiert werden als moderner Irrationalismus Textausschnitt: 4. Die Restauration von der Wissenschaft der Politik
44a Mit Max Webers Werk war der Positivismus zu seinem inneren Abschluß gekommen, und die Richtung begann sich abzuzeichnen, in der eine Erneuerung der politischen Wissenschaft sich bewegen würde. Die Korrelation zwischen dem konstituierenden "Wert" und der konstituierten "wertfreien" Wissenschaft war zusammengebrochen; die "Werturteile" hatten wieder in die Wissenschaft zurückgefunden in der Form des Glaubens, an dem sich das Handeln orientiert und dadurch die Einheiten der Sozialordnung schafft. Die letzte Bastion war Webers Überzeugung, die Geschichte bewege sich auf einen Typus der Rationalität zu, der Religion und Metaphysik in das Reich des "Irrationalen" verbanne. Und diese Bastion war nicht allzu stark, sobald man sich klar wurde, daß niemand verpflichtet war, sich in ihr zu verschanzen; man konnte ihr den Rücken kehren und die Rationalität der Metaphysik und im besonderen der philosophischen Anthropologie neu entdecken, d. h. jener Wissenschaftsbereiche, von denen Max Weber sich geflissentlich ferngehalten hat. (Fs)
44b Das Rezept ist jedoch einfacher als seine Anwendung. Denn Wissenschaft ist nicht die einsame Leistung dieses oder jenes Forschers; sie ist ein kooperatives Unternehmen. Wirksame Arbeit ist nur im Rahmen einer Tradition geistiger Kultur möglich. Wenn die Wissenschaft so völlig ruiniert ist, wie dies um 1900 der Fall war, dann ist die Wiedergewinnung theoretischer Grundlagen schon für sich eine beträchtliche Aufgabe, ganz zu schweigen von der Materialmasse, die neu bearbeitet werden muß, um die Relevanzordnung der Tatsachen und Probleme wiederherzustellen. Ferner dürfen die menschlichen Schwierigkeiten nicht unterschätzt werden: die Entwicklung neuer, der Konvention zuwiderlaufender Ideen wird unvermeidlich auf den Widerstand der Umgebung stoßen. Ein Beispiel möge die Natur dieser verschiedenen Schwierigkeiten verständlich machen. (Fs) (notabene)
45a Wie soeben dargelegt wurde, verstand Weber Geschichte noch als ein Wachsen der Rationalität im positivistischen Sinne. Von einer Ordnungswissenschaft her gesehen ist jedoch der Ausschluß der scientia prima aus dem Bereich der Vernunft nicht ein Wachsen, sondern ein Rückgang der Rationalität. Was Weber in der Nachfolge Comtes als modernen Rationalismus auffaßte, müßte neu interpretiert werden als moderner Irrationalismus. Schon diese Umkehrung allgemein akzeptierter Wortbedeutungen würde auf Widerstand stoßen. Aber eine Neuinterpretation könnte an diesem Punkt nicht Halt machen. Die Ablehnung hoch entwickelter Wissenschaften und der Rückzug auf eine niedrigere Rationalitätsstufe hat erlebnismäßig tiefgehende Motive. Eine genauere Untersuchung würde gewisse Wandlungen im religiösen Erleben als die tiefste Ursache für das Widerstreben enthüllen, die ratio von Ontologie und philosophischer Anthropologie anzuerkennen; und in der Tat begann in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Erforschung des Sozialismus als religioser Bewegung, eine Erforschung, die sich später zum umfassenden Studium totalitärer Bewegungen als neuer Mythen oder Religionen ausweitete. Die Untersuchung würde darüber hinaus zu dem allgemeinen Problem der Beziehungen zwischen Rationalitätstypen und Typen religiöser Erfahrung führen. Manche religiöse Erfahrungen würden als höher, andere als niedriger zu klassifizieren sein nach dem Maßstab des Rationalitätsgrades, den sie in der Interpretation der Wirklichkeit zulassen. Die religiösen Erfahrungen der griechischen Philosophie und des Christentums würden hoch zu werten sein, weil sie die Entfaltung der Metaphysik zulassen; die religiösen Erfahrungen von Comte und Marx würden als niedrig eingestuft werden, weil sie die metaphysische Fragestellung verbieten. Solche Erwägungen würden das positivistische Bild der Entwicklung von einer frühen religiösen oder theologischen Phase der Menschheit bis zur Höhe der positiven Wissenschaft radikal umstoßen. Nicht nur würde die Linie der Entwicklung, zumindest für die Neuzeit, von einer höheren zu einer niedrigeren Stufe der Rationalität verlaufen, sondern darüber hinaus müßte dieser Abstieg der ratio als die Folge geistigen Rückschrittes aufgefaßt werden. Damit würde eine Deutung westlicher Geschichte, die in Jahrhunderten entstanden war, revolutioniert werden. Und eine Revolution solchen Ausmaßes würde auf die Opposition "progressiver" Elemente stoßen, die sich plötzlich in der Lage rückschrittlicher Irrationalisten befänden. (Fs) (notabene)
46a Die Möglichkeiten einer Neuinterpretation des Rationalismus sowie der positivistischen Geschichtsauffassung wurden im Modus des Konjunktivs formuliert, um den prekären, hypothetischen Charakter einer Erneuerung der politischen Wissenschaft um die Jahrhundertwende anzudeuten. Ideen dieser Art waren im Umlauf; aber von der Gewißheit, daß es mit der Lage der Wissenschaft nicht zum Besten bestellt war, bis zu der genauen Erkenntnis der Natur des Übels war ein weiter Weg zurückzulegen; und ebenso weit war der Weg von ersten Mutmaßungen über die einzuschlagende Richtung bis zur Erreichung des Ziels. Eine große Zahl von Vorbedingungen mußten erfüllt sein, ehe die konjunktivischen Erwägungen in die Form indikativischer Aktion übertragen werden konnten. Das Verständnis für die Ontologie wie auch die rein handwerksmäßige Technik des Philosophierens mußten neu erworben, und vor allem mußte die philosophische Anthropologie wieder als Wissenschaft neu begründet werden. Mit Hilfe der wiedergewonnenen Maßstäbe wurde es dann möglich, in sachlicher Hinsicht die Irrationalität der positivistischen Position im einzelnen präzis zu beschreiben. Zu diesem Zweck mußten die Werke der führenden positivistischen Denker sorgfältig analysiert werden, um den entscheidenden Punkt ihrer Ablehnung rationaler Argumente genau festzustellen; man mußte z. B. die Stellen in den Werken von Comte und Marx aufzeigen, an denen diese Denker die Gültigkeit der metaphysischen Fragestellung anerkannten, sich aber weigerten, sich ihr zu beugen, weil sie dadurch ihr irrationales Meinen und ihre Absichten gefährdet hätten. Wenn die Untersuchung weiter bis zu den Motiven des Irrationalismus vordrang, mußte das positivistische Denken, wiederum auf Grund der Quellen, als eine Variante des Theologisierens genauer bestimmt werden; und schließlich mußten die zugrunde liegenden religiösen Erlebnisse diagnostiziert werden. Diese Diagnose wieder konnte nur dann erfolgreich durchgeführt werden, wenn eine allgemeine Theorie religiöser Phänomene so weit ausgearbeitet war, daß sie die Subsumierung der konkreten Fälle unter Typen gestattete. Die allgemeine These betreffend den Zusammenhang zwischen Rationalitätsgraden und religiösen Erfahrungen, ferner auch der Vergleich mit griechischen und christlichen Beispielen, erforderten ein erneutes Studium der griechischen Philosophie, welches den Zusammenhang zwischen der Entfaltung der griechischen Metaphysik und den religiösen Erfahrungen der Philosophen, die sie entwickelt haben, herausstellte; und ein erneutes Studium der mittelalterlichen Philosophie mußte den entsprechenden Zusammenhang für den Fall des Christentums feststellen. Darüber hinaus mußten die charakteristischen Unterschiede von griechischer und christlicher Metaphysik aufgezeigt werden, die den Unterschieden der religiösen Erfahrung zugeschrieben werden konnten. Und erst nachdem alle diese vorbereitenden Studien durchgeführt, nachdem die Begriffe für die Behandlung der Probleme konstruiert und die Urteile durch die Quellen gestützt waren, konnte man sich der abschließenden Aufgabe zuwenden, die Ordnung der Geschichte, in welche diese mannigfaltigen Phänomene sich eingliedern ließen, theoretisch verständlich zu machen. (Fs) (notabene)
48a Die Aufgabe der Erneuerung ist tatsächlich unternommen worden; und heute ist sie soweit gediehen, daß zumindest die Grundlagen für eine neue Ordnungswissenschaft gelegt sind. Eine eingehende Schilderung des weitgespannten Unternehmens geht über den hier vorgesehenen Rahmen hinaus - sie müßte zu einer umfassenden Geschichte der Wissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anwachsen. Die folgenden Untersuchungen über das Repräsentationsproblem haben den Zweck, den Leser mit dieser Bewegung sowie auch mit der Verheißung, die sie für die Erneuerung der politischen Wissenschaft bedeutet, bekannt zu machen. (Fs) ____________________________
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