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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Positivismus; "Werturteil" - Tatsachenurteil; "wertfreie" politische Wissenschaft, Ausschaltung d. Werturteile; Ethik. Politik (nicht mehr): Wissenschaft von der Ordnung, in der das menschliche Wesen seine maximale Aktualisierung erreicht

Kurzinhalt: Der Ausdruck "Werturteil" ist an sich sinnlos; er empfängt seinen Sinn nur aus einer Situation, in der er den Tatsachenurteilen gegenübergestellt wird; und diese Situation wurde durch das positivistische Dogma geschaffen, nur Tatsachenurteile ...

Textausschnitt: 29a Die dritte Erscheinungsform des Positivismus war die Entwicklung der Methodologie, vor allem während des Halbjahrhunderts 1870-1920 Diese Bewegung war insoferne eine Phase des Positivismus, als sie die Verkehrung der Relevanz durch den Übergang von der Theorie zur Methode zum Prinzip erhob. Gleichzeitig jedoch trug sie zur Überwindung des Positivismus bei, indem sie die Relevanz der Methode verallgemeinerte und dadurch das Verständnis der spezifischen Adäquanz verschiedener Methoden für verschiedene Wissenschaften wiedergewann. Denker wie z. B. Husserl oder Cassirer waren, was ihre Geschichtsphilosophie anbelangt, noch Positivisten der Comte'schen Richtung; aber Husserls Kritik des Psychologismus und Cassirers Philosophie der symbolischen Formen waren bemerkenswerte Schritte auf dem Wege zur Wiederherstellung der theoretischen Relevanz. Die Bewegung als Ganzes ist also viel zu verwickelt, um Verallgemeinerungen ohne sorgfältige und eingehende Qualifikationen zu gestatten. Ein Problem der Methodologie kann und muß jedoch herausgehoben werden, weil es von besonderer Bedeutung für die Zerstörung der Wissenschaft war, nämlich der Versuch, die politische Wissenschaft (und die Sozialwissenschaften im allgemeinen) durch rigorose Ausschaltung aller "Werturteile" "objektiv" zu machen. (Fs)

30a Um über diesen Punkt Klarheit zu erlangen, muß man sich vor allem vergegenwärtigen, daß die Bezeichnungen "Werturteil" und "wertfreie Wissenschaft" vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht- zum philosophischen Vokabular zählten. Der Ausdruck "Werturteil" ist an sich sinnlos; er empfängt seinen Sinn nur aus einer Situation, in der er den Tatsachenurteilen gegenübergestellt wird; und diese Situation wurde durch das positivistische Dogma geschaffen, nur Tatsachenurteile betreffend die phänomenale Welt seien "objektiv", während Urteile über die richtige Ordnung von Mensch und Gesellschaft "subjektiv" seien. Nur Urteile der ersten Art könnten als "wissenschaftlich" gelten, während die der zweiten Art persönliche Vorzugsakte und Entscheidungen ausdrückten, die einer kritischen Verifizierung nicht fähig und darum ohne objektive Gültigkeit seien. Diese Einteilung der Urteile war jedoch sinnvoll nur, solange das positivistische Dogma grundsätzlich anerkannt wurde; und es konnte nur von Denkern anerkannt werden, die mit der klassischen und christlichen Wissenschaft vom Menschen nicht vertraut waren. Denn weder die klassische noch die christliche Ethik und Politik enthalten "Werturteile"; sie arbeiten vielmehr empirisch und kritisch die Ordnungsprobleme durch, die sich aus der philosophischen Anthropologie als einem Teil der allgemeinen Ontologie herleiten. Erst als die Ontologie als Wissenschaft verlorengegangen war und in der Folge die Ethik und Politik nicht mehr als Wissenschaft von der Ordnung, in der das menschliche Wesen seine maximale Aktualisierung erreicht, aufgefaßt werden konnten, fiel dieser Wissensbereich unter den Verdacht subjektiver, unkritischer Meinung. (Fs) (notabene)

31a Insoferne die Methodologen das positivistische Dogma anerkannten, trugen sie ihr Teil zur Zerstörung der Wissenschaft bei. Zugleich aber versuchten sie energisch, die Geschichts- und Sozialwissenschaften aus der Mißachtung wieder herauszuholen, ich die sie infolge ihres zerstörten Zustandes nicht ganz ohne Grund geraten waren. Denn wenn die episteme zerstört ist, hören die Menschen nicht auf, über Politik zu reden, aber sie müssen sich dann der Form der doxa bedienen. Und in der Form der doxa wurden eben die "Werturteile" ausgesprochen, die das Bedenken der Methodologen erregten. Der Versuch der Methodologen, den Sozialwissenschaften durch die Ausschaltung des unkritischen Meinens der Zeit wieder Geltung zu verschaffen, hat also immerhin das Bewußtsein kritischer Maßstäbe wachgerufen, wenn ihm auch die Wiederbegründung einer Ordnungswissenschaft nicht gelungen ist. Die Theorie der Werturteile wie auch der Versuch, eine "wertfreie" Wissenschaft zu begründen, wirkten sich daher ambivalent aus. Insoferne als der Angriff auf Werturteile ein Angriff auf die unkritischen Meinungen war, die unter dem Decknhantel der politischen Wissenschaft auftraten, hatte er die heilsame Wirkung einer theoretischen Säuberung. Insoferne als unter den Begriff von Werturteilen die Gesamtheit der klassischen und christlichen Metaphysik und vor allem die philosophische Anthropologie subsumiert wurden, konnte der Angriff zu nichts Geringerem als dem Eingeständnis führen, daß es eine Wissenschaft von menschlicher und sozialer Ordnung nicht gebe. (Fs)

32a Die Mannigfaltigkeit der Versuche hat heute, da die großen methodologischen Kämpfe abgeflaut sind, im einzelnen an Interesse verloren. Im allgemeinen waren die Versuche von dem Prinzip geleitet, die "Werte" aus der Wissenschaft zu entfernen und ihnen den Status fragloser Axiome oder Hypothesen zuzuschreiben. So wurden z. B. unter der Annahme, der "Staat" sei ein Wert, die politische Geschichte und die politische Wissenschaft als "objektiv" legitimiert, soweit sie Beweggründe, Handlungen und Bedingungen erforschten, die Einfluß auf die Schaffung, Erhaltung und Vernichtung von Staaten hatten. Es liegt auf der Hand, daß dieses Prinzip zu dubiosen Ergebnissen führen mußte, wenn die Wahl des legitimierenden Wertes in das Ermessen des Wissenschaftlers gestellt wurde. Denn wenn die Wissenschaft als die Erforschung von Tatsachen in Beziehung auf einen Wert definiert wird, dann gibt es ebenso viele Arten politischer Geschichte und politischer Wissenschaft als es Gelehrte mit verschiedenen Ideen darüber, was wertvoll ist, gibt. Die Tatsachen, die als relevant gelten, weil sie auf die Werte eines Fortschrittsgläubigen bezogen werden können, sind nicht die gleichen Tatsachen, die ein Konservativer als relevant ansieht; und die für einen Vertreter der freien Wirtschaft relevanten Fakten sind nicht notwendig relevant für einen Marxisten. Weder die äußerste Sorgfalt, die konkrete Arbeit "wertfrei" zu halten, noch die gewissenhafteste Beobachtung kritischer Methoden bei der Feststellung von Tatsachen und Kausalbeziehungen, konnte das Absinken der historischen und politischen Wissenschaften in den Sumpf des Relativismus verhindern. Es wurde sogar die Ansicht vertreten - sie fand weite Zustimmung -, daß jede Generation die Geschichte neu schreiben müsse, weil die "Werte", die die Auswahl der Probleme und Stoffe bestimmen, sich wandeln. Wenn die unvermeidliche Verwirrung nicht noch größer war als sie tatsächlich wurde, muß der Grund wiederum in dem Einfluß einer Kulturtradition gesucht werden, welche die Vielgestaltigkeit unkritischer Meinungen in ihren Rahmen zwang. (Fs)

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